11. KAPITEL – Akamouk in Mali, Neue Achse, Endlich wieder mobil

Gemütlich und in guter Stimmung sitzen wir drei, Michelle, Francois und ich in den etwas bequemeren Stühlen mit Armlehnen, vor uns jeder ein Glas roten Weines aus den Weingärten von Muaskar (Mascara), im Norden Algeriens. Ich bin wieder einmal sehr froh, dass es in diesem Haus keine Klimaanlage gibt. Die drei großen Deckenventilatoren verwirbeln fast unhörbar die Luft und kühlen damit ausreichend. Ich erzähle den beiden Geschichten aus den Erinnerungen, die ich demnächst schreiben werde. Die Reaktionen darauf helfen mir bei der Entscheidung, welche davon für mein Buch relevant sind. Der Wein ist getrunken, die Vergangenheit wieder zum Leben erweckt, es ist Zeit zu Bett zu gehen. Doch der Schlaf stellt sich nur mühsam ein und die Nacht wird unruhig. Mehrmals erwache ich aufgeregt, die Erzählungen am Abend scheinen mich selbst so berührt zu haben, dass ich nicht mehr warten kann. Es herrscht noch Dunkelheit, als ich den Computer starte. Das Schreiben läuft heute ganz wunderbar und ich merke darüber nicht einmal die Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen fallen irritierend ins Zimmer auf den Bildschirm. Ich blinzele hinaus in die Wüste und sehe in der Ferne einige Kamele stehen. Die Tiere werfen in der Morgensonne lange Schatten. Es sind fünf an der Zahl und sie scheinen zusammen zu gehören. Doch woher kommen die, freilaufende Kamele sind in dieser Gegend äußerst selten anzutreffen. Ein Blick in den Hof des Anwesens erklärt alles, dort sind drei Gestalten versammelt und unterhalten sich leise. Akamouk ist wieder da! Neben ihm stehen ein in einen Tegelmust verhüllter Targi und François. Ich mache mich mit einem laut gerufenen „Guten Morgen“ bemerkbar und erhalte von unten dreifach fast synchron Antwort. Computerdeckel zu, vergessen ist das Schreiben für den Moment, es treibt mich hinunter in den Hof. 

Die Begrüßung ist herzlich. Der zweite Targi heißt Iyad, ist ein Verwandter von Akamouk und möchte dorthin, wo er geboren wurde, in den Hoggar. Die beiden sind in der Nacht eingetroffen und standen vor verschlossenem Tor. Die Kamele wurden von ihrer Last befreit und sie warteten bis François, wie jeden Tag das Tor öffnet. Im Moment sind sie dabei die wertvollen Sättel und einige Bündel mit ihrem Hab und Gut in die Garage zu bringen. Michelle kommt aus dem Haus, begrüßt die beiden Männer gerührt, die Freude Akamouk heil wiederzusehen ist ihr anzumerken. Zu François und mir gewandt teilt sie uns mit, dass das Frühstück fertig sei. Es wird ein kurzes petit déjeuner, denn wir sind neugierig und wollen erfahren, wie es in Mali war.

Zum Verständnis des Folgenden ist es notwendig, in groben Zügen über die komplizierte Situation in Mali informiert zu sein. Fünf Kräfte (ohne der Untergruppen) mit unterschiedlichen Zielsetzungen kämpfen dort um ein riesiges Gebiet, das weder fruchtbar noch besonders reich an Bodenschätzen ist, mit Ausnahme von Uran, jedoch touristische und strategische Bedeutung hat:

  1. Säkulare Tuareg für mehr Selbstbestimmung,

  2. “              “      für einen eigenen Staat Azawad,

  3. Islamistische Tuareg für eigenen islamischen Staat,

  4. Regierung Mali (Bamako) plus den schwarzen Völkern im südlichen Azawad und

  5. natürlich Frankreich

AZAWAD-1
Azawad, das umkämpfte Gebiet Malis

Das Nomadenvolk Tuareg lebt in einem kargen Gebiet, das in seiner Ausdehnung etwa der Fläche Europas gleicht, in der Sahara und Teilen des Sahel im Süden. Ihr Einzugsgebiet umfasst Mali, Algerien, Libyen, Tschad, Niger und Burkina Faso. Es ist ein hellhäutiges nomadisierendes Reiter- und Hirtenvolk, das sich Sklaven aus Schwarzafrika hielt und noch heute hält. Woraus sich ergibt, dass sie sich von der durchwegs schwarzen Regierung in Bamako nicht beherrschen lassen wollen. Die Kel Tamaschek, wie sich die Tuareg selbst nennen, sind staaten- und stammesübergreifend durch ihre einheitliche Sprache und Kultur miteinander verbunden. Die von den Kolonialmächten im neunzehnten Jahrhundert willkürlich gezogenen Staatsgrenzen, welche Völker, Stämme und sogar Familien geteilt und über ganz Afrika Nationalstaaten gegründet haben, stören den Zusammenhalt der Tuareg überhaupt nicht. Viele Kämpfer im Azawad waren ehemalige Anhänger von Muammar al-Gaddafi. Sie flüchteten nach seinem Sturz mit großen Mengen Waffen und Munition nach Mali.

Die islamistischen Tuareg werden von der al-Quaida des Maghreb unterstützt und versuchen im Azawad durchgehend die Scharia einzuführen. Sie übernahmen kurz die Führung und zogen im Namen der Schari‘a raubend, mordend und plündernd durch das Land.

Die Regierung von Mali in der Hauptstadt Bamako, die in sich selbst zerstritten und durch ausufernde Korruption geschwächt, will den Norden Malis nicht verlieren.

Frankreich, das mit ihrer vierzehn afrikanische Staaten umfassenden Währungsunion, dem Franc CFA, auch Mali unter Kontrolle hat, will Frieden haben und selbstverständlich keinen islamischen Staat in ihrem Einflussbereich.

Zwei Revolten der Tuareg im vorigen Jahrhundert blieben ohne entscheidende Folgen für den Azawad. Der aktuelle Aufstand von 2012 wurde von den Franzosen zu einem trügerischen Stillstand gebracht. Truppen der UNO aus verschiedenen Ländern, darunter auch Deutschland, übernahmen die Kontrolle.

Flagge von Azawad

Nach dem gemeinsamen Frühstück begeben wir uns zu Akamouk in den Hof. Dort ist Iyad dabei ein für die Sahara typisches Lederzelt aufzustellen. Faktisch ist das kein Zelt, sondern eher ein Schutz gegen die Sonne. Über ein paar in die Erde gerammte Zeltpfosten werden imprägnierte Felle von Schafen oder Ziegen gespannt, die nur auf einer Seite bis zum Boden reichen, die anderen drei Seitenflächen bleiben meistens frei. Akamouk kocht währenddessen auf einem schnell entfachten Feuer Tee. Er hat seinen Tegelmust zu einem großen Teil abgenommen und zeigt seinen frisch gewachsenen, nicht gerade üppigen Bart.

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Targi mit Bart

Den bewundern wir gehörig, erfahren aber den Grund dafür erst nach dem dritten Glas Tee. Dann beginnt Akamouk zu erzählen: Iyad wurde von Islamisten entführt und als Geisel für die Freilassung Gefangener benützt. Da er ein Verwandter ist, war es für den Targi Verpflichtung, ihn zu befreien. Das Versteck dieser Gruppe von Jihadisten lag unweit von Kidal entfernt, der durch die säkularen Tuareg zurückeroberten Stadt im Norden Azawads. Um als gläubiger Moslem erkannt zu werden, ließ er sich den Bart wachsen. Er ritt mit zwei Kamelen durch bergige Landschaften zum Lager der Islamisten und meldete sich beim Kommandanten, indem er sich als Kämpfer für die Scharia bekannte. Die Kommunikation war kein Problem, da alle Tamaschek, die gleiche Sprache verstanden. Akamouk erhielt nach intensiver Prüfung eine Tarnjacke aus russischer Produktion, einen Karabiner mit Munitionsgürtel ausgehändigt. Er bekam die Aufgabe, das Lager zu bewachen. Automatische Waffen wurden ausschließlich an aktive Kämpfer verteilt. In den nächsten Tagen musste er, von anderen streng beobachtet, fünfmal am Tag beten. Er machte sich mit der Gegend vertraut und konnte es einrichten, mit Iyad zu sprechen. Ein Raubzug der Gruppe nach Süden, an dem fast alle Kämpfer aus diesem Versteck teilnahmen, brachte in einer Nacht die Gelegenheit zu verschwinden. Da Akamouk seine Kamele darauf trainiert hatte beim Satteln nicht zu maulen, und die Jihadisten mit allen motorisierten Fahrzeugen unterwegs waren, entkamen sie unbemerkt. Sie ritten im schnellsten Tempo, das die Meharis hergaben, durch die Nacht und erreichten morgens das sichere Kidal. Dort besorgten sie innerhalb weniger Tage Proviant und füllten die Gerbas mit frischem Wasser.

Bei diesem Aufenthalt erfuhr Akamouk, was im Azawad geschehen war. Die Tuareg waren allein zu schwach, so paktierten sie mit den Jihadisten der al-Quaida. Das führte dazu, dass sie gezwungen waren, gegen ihre ursprünglichen Absichten, um mehr Autonomie zu kämpfen, einen islamischen Staat Azawad auszurufen. Die Islamisten übernahmen bald danach die Führung, terrorisierten das ganze Land und setzten die Scharia durch. Die Frauen gingen aller ihrer angestammten Rechte verlustig. Sie wurden zu totaler Verschleierung genötigt, was bei den an ein gemäßigtes Matriarchat gewöhnten Tuareg nicht gut ankam. Die säkularen Tuareg waren zu einem großen Teil gezwungen, nach Niger oder Ober Volta zu flüchten. Französische Fremdenlegionäre und Truppen aus dem Tschad setzten diesem Spuk ein Ende.

Die zwei mussten auf ihrem Weg nach Osten das Gebiet des einflussreichen Clans der Kel Ifoghas durchqueren. Akamouk hatte dort einmal geheiratet und suchte seine ehemalige Familie, die er in Frieden verlassen hatte. Er traf sie an, aber seine geschiedene Frau ist eine neue Verbindung eingegangen und war weggezogen, Teile ihres Eigentums zurücklassend. Ihr Bruder, der das Hab- und Gut der Frau übernommen hatte, starb bei Kämpfen im Azawad. Zurück blieben verwaist ein Mehari und zwei weitere Kamele, sowie ein Zelt. Akamouk bekam Kamele und Zelt vom Führer des Clans zugesprochen. Sie luden das zerlegte Zelt auf eines der Lastkamele und zogen in langen Tagesritten mit der kleinen Herde bis hierher. Hier möchten sie eine Weile rasten, bevor sie in den Hoggar weiterziehen. Akamouk ist enttäuscht über die Absichten seiner Tuaregbrüder in Mali. Sie wollen dort trotz des Widerstandes einen eigenen Staat gründen. Das brächte doch nur Arbeit und würde sehr viel Geld kosten. Es müssten Ministerien, Polizei, Militär aufgebaut werden, es gäbe Zwangssteuern und Gesetze zu befolgen die sich irgendwelche Leute ausdenken. Ein eigener Staat kompliziert doch alles, das freie Leben der Nomaden wäre vorbei.

Die Sonne steht schon recht hoch und es ist Zeit sich in den Schatten zurückzuziehen. Das Zelt ist aufgebaut, als Zeichen, dass das Gespräch beendet ist, reicht uns Akamouk ein zusätzliches viertes Glas Tee. François und ich begeben uns ins Haus. Am Weg hinauf in meine Stube überlege ich mir, dass ich ebenfalls gerne einmal gleich wie die Nomaden so durch die Wüste reisen würde. Aber ich verwerfe diesen Gedanken sofort wieder. Animiert von den Erzählungen Akamouks arbeite ich bis Mittag an meinem Manuskript:

In Oued Djer war Walter nach meiner Wache dran den Père Ubu zu beschützen. Wir haben uns angewöhnt, den nächstfolgenden Wachhabenden mit heißem Getränk zu versorgen. Damit es bei der herrschenden Kälte trotz Thermosflasche lange warm bleibt, wurde es in der Stube etwa eine Stunde nach Beginn des Turnus frisch zubereitet und zum Auto gebracht. Ich verließ das Haus mit der Flasche heißer Ovomaltine unter dem Arm, in der Jackentasche meine 7,65er – Pistole und einer Taschenlampe. Da wir hier mitten im Zentrum der Aufständischen festsaßen, vermittelte die Hand an der Waffe Mut und Zuversicht. Der Himmel war mit tiefen Wolken verhangen, darüber hinaus herrschte Neumond. Es war nicht nur bitterkalt, sondern dazu stockfinster. „Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen“. Dieses Sprichwort habe ich bei dieser Gelegenheit ausprobiert und fand es bestätigt.

Indem ich mich im Scheine der Taschenlampe die gewundene Rampe hinauf tastete, fand ich die Finsternis insofern vorteilhaft, weil man sich im Falle eines Angriffs links oder rechts die Böschung des aufgeschütteten Weges hinunterrollen und in der Dunkelheit verschwinden würde. Doch es sollte anders kommen. Auf halben Weg nach oben kam von irgendwo aus der Finsternis der Befehl: „Fermé la lumière“, mach‘ das Licht aus! Jetzt war der Moment gekommen, wie geplant davon zu laufen. Ich löschte die Taschenlampe, doch während ich überlegte, welche Seite des Weges zum fallen lassen die beste wäre, hörte ich ringsum das mir nicht unbekannte Repetieren von Maschinenpistolen. Da stand ich nun, mit einer Thermosflasche heißer Ovomaltine bewaffnet und einer bescheidenen Pistole in der Tasche, umringt von unsichtbaren Gestalten, die mit scharfen Waffen auf mich zielten. Sie hatten den Vorteil, aus der Finsternis zu kommen, meine Augen mussten sich erst auf die Dunkelheit einstellen. Man befahl mir, weiterzugehen. Ab und zu blitzte eine Lampe auf und einer der sich vollkommen geräuschlos fortbewegenden Herren beleuchtete damit kurzzeitig den Weg zum Auto.

Oben auf der Straße war es etwas heller, oder ich hatte mich an die Finsternis gewöhnt. Konturen des Autos und der Männer waren zu erkennen. Man bedeutete mir, ich solle in den Wagen steigen. Das ging aber überhaupt nicht, denn ich wusste, im Inneren sitzt Freund Walter mit geladenem Schrotgewehr. Wie wir besprochen hatten, würde er sofort schießen, sobald sich die Türe öffnete. Mein Zögern blieb nicht unbemerkt. Um mich zu beruhigen, zeigten sich im Lichte von Taschenlampen Männer in Djellabas, den längs gestreiften braunen Kaftans mit Kapuzen der Einheimischen. Ihr Anführer strippte vor mir, indem er sein arabisches Gewand bis zum Kopf hochhob und die französische Uniform darunter zeigte. Was mich keineswegs beruhigte, denn es war bekannt, dass die Fellaghas toten Soldaten die Kleidung auszogen, und in dieser Verkleidung ihre Überfälle tarnten. Mit angelegter Maschinenpistole deutete er mir, die Wagentüre zu öffnen. Es gab keinen Ausweg. Im Vertrauen auf die Besonnenheit Walters rief ich laut seinen Namen. Nicht die Spur eines Lebenszeichens kam aus dem Père Ubu. Ich dachte, ich soll einsteigen und dann erschießen sie mich im Auto. In Erwartung, eine blutüberströmte Leiche im Inneren des Wagens vorzufinden, öffnete ich die Türe und sah in eine Ecke gelehnt die Ferlacher Schrotflinte. Wo bitte, ist Walter?

Der Anführer der Truppe erzählte mit irgendetwas vermutlich in Französisch und deutete mir zum Haus hinunter zu gehen. Also ging ich los, von der geräuschlosen Horde Bewaffneter begleitet.
Im Vorraum angelangt bedeutet man mir durch Gesten still zu sein und das Zimmer zu betreten. Jetzt stand ich vor der gleichen Konstellation wie oben beim Père Ubu. Verteidigung war sicher, nur dass Mackie wesentlich impulsiver war, als der in jeder Situation ruhig überlegende Walter war. Ich durfte vor dem Öffnen das zwischen uns ausgemachte Klopfzeichen nicht geben. Mit sehr gemischten Gefühlen und den schussbereiten Maschinenpistolen im Rücken öffnete ich betont lässig die Zimmertüre und überlegte, ob ich mich im Fall des Falles nach links oder rechts werfen sollte, um einer Kugel auszuweichen. Doch war auch hier diese Aktion nicht nötig, denn Max saß gegenüber dem Eingang beim Kamin und war konzentriert damit beschäftigt, sich knallrote Wintersocken anzuziehen. Mein Eintreten ignorierte er. Waffen gab es auch keine in seiner Reichweite. Allerdings erschrak er gewaltig und sprang mit einem roten Socken bekleidet auf, als er des Algeriers hinter mir ansichtig wurde. Der aber grüßte höflich und erklärte, sie seien eine mobile Kampftruppe und hätten Walter mit ihrem Fahrzeug in die Polizeistation der nächsten Ortschaft zur Überprüfung seiner Papiere geschickt. Es folgte ein kurzes klärendes Gespräch, währenddem sich Mackie ankleidete. Dann stieg er mit der Gruppe zum Auto hinauf. Oben angekommen funkte der Chefgoumier die Daten unserer Dokumente nach El Affroun. Wenig später kam Walter von einer Abteilung Polizisten bewacht, unbeschadet in einem Dienstagen der Polizei angefahren.

Ich legte mich mit dem Karabiner in Deckung hinter das Ölfass, weil ich war fest entschlossen, die Stellung zu halten! Es stellte sich heraus, dass unsere nächtlichen Besucher einer Spezialtruppe angehörten, den Goumiers. Das waren wilde algerische Kämpfer, vom französischen Militär speziell zu Partisanen ohne Hemmungen zu töten ausgebildet. Bei ihren Patrouillen in der Nacht bewegten sie sich auf den Gummisohlen ihrer Springerstiefel leise wie Katzen. Näherte sich ein Fahrzeug, verschwanden sie blitzartig von der Straße, bevor die Scheinwerfer die Truppe erfassen konnte. Spurlos tauchten sie in die Finsternis, ihre Position damit geheim haltend. Dieses Schauspiel beobachteten wir fast jede Nacht aus unserem Auto heraus, denn sie klopften bei ihren Kontrollgängen im Vorbeigehen regelmäßig freundlich an. Im Algerienkrieg auf der Seite der Franzosen kämpfend, waren sie nach der Befreiung Algeriens erbitterten Verfolgungen ausgesetzt.

In den Stunden nächtlicher Wachen der folgenden Nächte vernahmen wir oft deutliches Kratzen an der Karosserie des Père Ubu. Das hatte zur Folge, dass wir bei jedem Auftreten dieses Geräuschs mit entsicherter Waffe aus dem Wagen sprangen, ihn umkreisten, ohne jemanden zu erkennen. Einmal beobachtete ich, wie ein großer Vogel vom Autodach wegflog, der anscheinend den Aufbau des Gepäckträgers zum Ausgangspunkt seiner nächtlichen Jagden wählte.

Weit über drei Wochen waren wir jetzt an diesem Ort festgenagelt, das brachte unsere Nerven dazu, dass wir die Beherrschung schon aus geringstem Anlass verloren. Jeder auf seine Art. Mackie brüllte, sich mehrmals wiederholend „verdammt, verdammt“ wie ein brünftiger Stier, bis seine Narbe im Gesicht rot anlief, ich warf zerstörerisch den nächstliegenden zerbrechlichen Gegenstand in eine Ecke. Meine Uhr, die einzige neben der von Walter, fiel unabsichtlich durch die heftige Berührung mit einer Tischkante einer solchen Aktion zum Opfer. Walter zeigte seine Unzufriedenheit dadurch, indem er über seinen eigenen Schatten sprang, in den Expeditionsschatz griff und ein „Bidon“, eine große Flasche mit fünf Litern Rotwein aus El Affroun daher schleppte. Der Verlust meiner Uhr hatte zur Folge, dass wir uns auf die Zeitangabe der letzten halbwegs funktionierenden Uhr verlassen mussten. Walters Uhr blieb in vierundzwanzig Stunden grob geschätzte fünfzehn Minuten zurück. Und das nicht regelmäßig. Dies glich er täglich einfach durch manuelles Vordrehen um eine viertel Stunde aus. Dadurch stand im Laufe einiger Tage unsere Zeitrechnung in einem eigenwilligen Verhältnis zur Normalzeit. Dazu kam, dass in diesen Tagen ohne unser Wissen die algerische Zeit der MEZ angeglichen und eine Stunde vorgestellt wurde.

Walter sollte wegen eines avisierten Anrufes aus Wien zu einer bestimmten Zeit bei der Cabine telephonique im Postamt sein. Da er sich nach seiner Uhr richtete, war dieser Weg vergebens. Am nächsten Tag klappte es. In Algier wurde noch eine Achse für den Humber gefunden, und meine liebe und tüchtige Mutter hat auf Grund schriftlicher Erzählungen über unsere Nöte vom Unterrichtsministerium eine Aufstockung der Subvention erbeten und erhalten. Unsere Verluste durch die nicht vorherzusehenden recht kostspieligen Aufenthalte waren somit ausgeglichen. Darüber hinaus sind die Achsen aus Wien endlich angekommen. In Hochstimmung begaben wir uns am Abend auf eine wilde Rattenjagd und brachten binnen einer viertel Stunde fünf gewaltige Exemplare zur Strecke. Es war meine Wache, Mackie begleitete mich bis zum Auto. Am Rückweg gab er aus purem Übermut einen Schuss in die Luft ab, was den Gardien mit einem Gewehr auf den Plan rief. Doch der Erschrockene verstand diesen Ausdruck von Freude.

Der nächste Tag begann bei prächtigem Wetter mit einem ausgiebigen Frühstück. Der Kalender zeigte bereits den 15. Februar, die Sonne hatte etwas mehr Kraft, so dass für uns Körperreinigung und ein Bad im Bach angesagt war. Am Nachmittag, ich hatte eben mit der Reinigung des Père Ubu begonnen, hörten wir endlich das unverkennbare Knattern des IFA, der die Ersatzteile brachte.

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Die neue Achse (Walter, Gardien und ich v.l.n.r.)

Es folgte ein netter Abendplausch mit Sekt und der von der Familie Halali gespendeten Flasche Pastis, bevor Schani und Kopezky wieder in die Stadt Algier abrauschten. Jetzt mischten wir uns wie gewohnt unser Leibgetränk nach eigenem Rezept: halb Anisette – halb Wasser. Die Nacht verlief ruhig, der Morgen brachte miserables Wetter mit Hagel, Schnee und Regen abwechselnd und dann wieder alles gleichzeitig. Wir hatten über den rückwärtigen Teil des Père Ubu sorgfältig eine Art Zelt aus Plachen konstruiert, damit wir die Montagearbeiten in Trockenheit durchführen können. Lange Kolonnen offener Lastwagen fuhren in hohem Tempo mit frierenden Fremdenlegionären auf der Ladefläche in Richtung Sidi-Bel-Abbès vorbei. Grüße in deutscher Sprache wurden uns zugerufen. Manchmal verwehte der Fahrtwind unsere „Garage“ und musste neu befestigt werden. Wir hatten einen Dichtungsring bei seinem Einbau zerstört, wir brauchten einen neuen. Schani, Hans und ich fuhren am frühen Nachmittag nach Algier. Doch bei den ersten Häusern der Stadt versagte wetterbedingt der IFA seine Dienste und wollte nicht mehr starten. In einer unerklärlichen und bei ihm nicht gewohnten Regung von Kameradschaft bot Kopezky an, beim Auto zu bleiben und es wieder flott zu machen. Er schickte Jean-Pierre und mich mit dem Bus zu den Halalis, die uns herzlich aufnahmen. Hans übernachtete im wassergetränkten IFA, aber ich schlief nach drei Wochen Luftmatratze wieder einmal in einem liebevoll vorbereiteten sauberen Bett! Frisch und ausgeruht wurde der Morgen danach der Reparatur des Autos gewidmet. Wir mussten die Dichtungsringe vom Flugplatz holen, um gleich von dort nach Oued Djer aufzubrechen. Auf der Verpackung der Ringe war die Anweisung zu lesen, diese vor dem Einbau in heißem Öl anzuwärmen. Am darauffolgenden Vormittag, nachdem wir einige der Dichtungen in siedendem Öl verbrennen ließen, war die Achse montiert.

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Einbau der Achse, von l. nach r.: ich, Walter, Schani, Mackie u. Gardien.
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Einbau der Achse

Die ersten Startversuche schlugen fehl, weil beide Batterien leer waren. Da es kein Ladegerät gab, schleppten wir sie ins Haus zum Kaminfeuer. Später kamen die Fouberts zu Besuch und brachten ein feines Mittagessen mit, das uns nach Tagen des Genusses von Palatschinken (Pfannkuchen) aus Mehl und Wasser, belegt mit einer Ölsardine, besonders mundete. Wenige Stunden vor dem wärmenden Kamin genügten, um die Batterien zu reaktivieren. Nach deren Einbau sprang der Motor des Ubu unter mehrmaligem Rülpsen und einer Fehlzündung schnell an. Es war ein unglaublich erhebendes Gefühl, nach vier Wochen wieder mobil zu sein. So fuhr ich das erste Mal die Auffahrt hinunter zur Villa Achsbruch und stellte den Wagen davor. Wir lobten bei einem gemütlichen Abend die Bärenbatterien, den guten Gardien und uns selbst. Letztendlich hatten wir das drohende Gespenst des Scheiterns der Expedition für diesmal vertrieben.

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Kurz vor Abfahrt aus Oued Djer: Ich, Walter, Schani, Mackie v.l.n.r.

Unser Tätigkeitsdrang kannte keine Grenzen. Schon früh am Morgen beluden wir die Autos. Da dies äußerst sorgfältig mit speziellem Augenmerk auf die Gewichtsverteilung in den Fahrzeugen zu geschehen hatte, verließen wir Oued Djer erst zu Mittag. Die Gefahr von Schneelawinen im Atlasgebirge zwang uns zu einem landschaftlich reizvollen, aber beschwerlichen Umweg. Selbst in den Bergen bei Schnee und Glatteis verhielt sich der IFA vorbildlich und der Allrad angetriebene Ubu sowieso. Alle Warnungen vor Überfällen in den Wind schlagend und ebensolche Unkenrufe ignorierend fuhren wir bei Nacht bis Mascara, wo es ein schnelles Abendessen gab. Uns zog es nur weiter, dorthin, wo Aufgaben warteten, die zu erfüllen waren. Und vor allem, wo es warm ist. Der ersehnte Anblick des Beginns der Wüste blieb uns bei dieser Fahrt in der Nacht verborgen. Wir erreichten Mechéria nach drei Uhr morgens und blieben bis Tagesanbruch in den Fahrzeugen. Der dort diensthabende Garde Champetre, er war so eine Art von den Franzosen eingesetzter Kommandant, empfing uns freundlich. Er kannte Walter schon, der im Vorjahr hier durchkam. Von ihm erfuhren wir, dass der belgische Großwildjäger, der sich uns in Algier anschließen wollte, ein Verbrecher sei. Den Rest der Nacht schliefen wir im Haus des Franzosen, drei Luftmatratzen zu fünft teilend.

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Wasserentnahme aus dem zugefrorenen Brunnen in Mécheria

Der Brunnen vor dem Haus war mit einer fast einem Zentimeter dicken Eisschicht überzogen. Wir konnten aber nicht weiterfahren, weil kurz vor der Ankunft in Mechéria die Bremsleitung beim IFA ein Loch bekam. Der Wagen war derart überladen, dass der Benzintank die Leitung aus Kupfer aufgescheuert hatte. Nach einstündiger Reparatur durch einen autochthonen Mechaniker wollten wir uns wieder auf die Piste begeben. Walters Probefahrt endete frontal an einer Palme, er benutzte sie geistesgegenwärtig anstatt der Bremse, denn anders wäre der Wagen nicht stehengeblieben. Nach einer nochmaligen Instandsetzung der Bremsleitung ging es endlich weiter. Schani übernahm das Steuer des Père Ubu und fuhr uns, an Rechtslenkung nicht gewöhnt, in ein tiefes, aber ausgetrocknetes Flussbett. Dank Allrad holte ich das Fahrzeug wieder auf das Niveau der Straße. Das nächste Ziel war Colomb-Béchar, der letzte größere Ort vor der Einfahrt in die eigentliche Sahara. Unsere Stimmung war euphorisch zuversichtlich. Unterwegs trafen wir einen Schakal, den Mackie vergeblich mit seiner 9 mm Radom zu erlegen suchte. Da wir aus stoffwechseltechnischen Bedürfnissen sowieso stehen blieben, war eine Rast bei Haferschleim und Schießübungen angesagt. Die von mir mitgebrachte Pistole schießt doch, und sehr genau, stellte ich befriedigt fest. Auch mit meiner Zielsicherheit war ich zufrieden. Wir freuten uns alle auf Schwarzafrika und waren sicher, die größten Schwierigkeiten überwunden zu haben. So dachten wir wenigstens.

One thought on “11. KAPITEL – Akamouk in Mali, Neue Achse, Endlich wieder mobil

  1. Lieber Herbert, danke für deine lebendigen Berichte. Sie sind eine besondere Vorbereitung auf meine baldige Trekkingtour mit Kamelen in den SO von Algerien. Visum ist beantragt und kommt hoffentlich rechtzeitig! Inschallah!
    LG manfred

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