Vor mir steht der geöffnete Computer und macht keine Anstalten, mich zu inspirieren. Das Schreibprogramm zeigt eine blanke Seite, entleert wie der Kopf des Schreiberlings. Ich bemühe mich krampfhaft, einen Beginn für das nächste Kapitel zu finden, auf der Suche nach Anregungen blättere ich in Vor mir steht der geöffnete Computer und macht keine Anstalten, meine Kreativität heute zu wecken. Das Schreibprogramm zeigt eine blanke Seite, entleert wie der Kopf des Schreiberlings. Ich bemühe mich krampfhaft, einen Beginn für das nächste Kapitel zu finden, und blättere in bisher Geschriebenem. Schreib- und Fallfehler kommen dabei zum Vorschein. Ich bessere diese aus und ändere an verschiedenen Stellen die Syntax. Zurück zu der blanken Seite wird es zur Gewissheit: Das ist eine Blockade! Eine gründliche Dusche könnte helfen. Da sie keinen Erfolg bringt, wären ein Frühstück mit anschließender Bewegung im Freien sicher Möglichkeiten, meine Schreiblust zu fördern. Aus Vorsicht vor in der Nacht hinein gekrochenen Skorpionen die festen Stiefel kräftig ausgeklopft, gebeutelt und angezogen. Anstatt des geliebten Polos wähle ich ein Hemd mit Brusttaschen, und steige die Stiegen hinunter. Michelle empfängt mich mit einem freundlichen „Guten Morgen“ und verschwindet in der Küche. Kurz darauf kommt sie mit einer großen Tasse schwarzem Tee (!), einem halben Baguette und Käse wieder. Sie stellt dieses déjeuner auf den ungedeckten Tisch, ich meine in ihrem Lächeln Triumph auszumachen. Wortlos verlässt sie den Gastraum. Ich, der Frühstücke bisher vermieden habe, greife begeistert zu.
Nach dieser Stärkung erkunde ich das Areal des Anwesens erstmals innerhalb der Mauern genauer, begrüße den mit seinem Kamelsattel beschäftigten Akamouk und begebe mich durch das rückwärtige Tor in die unmittelbar dahinter beginnende Wüste. Von kleinen steinigen Erhebungen unterbrochen erstreckt sich die Hamada eben bis zum Horizont. Diese graubraune Wüstenlandschaft ist von der Nacht ausgekühlt, weil sie die aufgehende Morgensonne bisher nicht erreicht hat. Hinter dem dunklen Horizont tauchen die scharfkantigen, goldgelb beleuchteten Gipfel von Sanddünen auf. Darüber, die kommende Hitze des Tages erahnend, wölbt sich strahlendes Hellblau. Kühle Luft umweht mich, die vor allem die Ohren umschmeichelt.
Weil das Sonnenlicht morgens noch nicht seine volle Kraft entfaltet, ist der Himmel nicht durch aufgestiegene Staubpartikelchen verschleiert, sondern klar und intensiv blau. Brennt die Sonne erst auf den Sand, dehnen sich kleinste Staubkörnchen durch die Hitze aus und werden dadurch leichter als Luft. In kühlere Höhen getragen, schweben diese Teilchen in den anfänglich ungetrübten Himmel, und überziehen ihn wie Dunst mit einer grauen Schicht. Erst am Abend, sobald die Sonne untergegangen ist, fallen sie wieder zur Erde zurück.
Die Kälte der Nacht wirkt etwas nach, nur wenige der sonst allgegenwärtigen Fliegen summen herum, die totale Stille durchbrechend. Ich versuche, mich von rückwärts an eine auf den Hinterbeinen sitzende Wüstenspringmaus anzuschleichen, die aber hört die vorsichtig gesetzten Schritte und verschwindet blitzartig in ihrer Behausung. Es ist mein erster Spaziergang in der Wüste, seitdem ich hier eingetroffen bin. Um die Stille nicht zu stören, bleibe ich stehen und lasse minutenlang die Einsamkeit und Ruhe auf die Seele wirken. Ich marschiere auf einen flachen Hügel zu, der sich aber scheinbar im gleichen Tempo meiner Schritte immer weiter von mir entfernt, um endlich hinter dem Horizont gesamt zu verschwinden. Um die Orientierung nicht zu verlieren, werfe ich ab und zu einen Blick zurück in Richtung Auberge.
Durch die ansteigende Wärme geweckt, werden die Fliegen zahlreicher. Einige der anhänglichen Insekten sind besonders lästig und belagern auf der Suche nach Flüssigkeit Nase und Augen. Die Sonne erreicht schnell die Ebene und wird stechend. Es kann rasch überaus heiß werden, deshalb begebe ich mich auf den Rückweg. Den eigenen Fußspuren folgend, die im mittlerweile angewehten Sand zwischen den Steinen kaum mehr zu erkennen sind, überlege ich Inhalt und Form des nächsten Kapitels . Womöglich wegen meiner ausgeprägten Abneigung gegen ziellose Spaziergänge hatte ich seit jeher die Theorie abgelehnt, gleichmäßiges Gehen würde Geist und Kreativität beflügeln. Jetzt scheint es aber, dass endlich der Faden zur Fortsetzung meiner Schreibarbeit gefunden ist. Nach dieser Erfahrung glaube ich nunmehr fest an den Sinn des stundenlangen Dahinschreitens Beethovens, der Philosophen Kant und Nietzsche oder der Dichter Schiller und Rimbaud. Gestärkt in mein „Verlies“ zurückgekehrt sieht mich der Computer schon weniger bissig an, er scheint sogar aufmunternd zu lächeln.

Um dem kulturellen Anspruch dieser Schrift ebenfalls Platz zu geben, muss unausbleiblich die Geschichte des Strohkoffers folgen. Allerdings in aller Kürze dargestellt, so wie ich sie erlebt habe. Aus jener Zeit gibt es Umstände zu berichten, die Historikern dieses Etablissements bis jetzt verborgen geblieben sind. Es waren vor allem die bildenden Künstler, Autoren und Musiker, die nach den Kriegsjahren große Aufgaben zu bewältigen hatten. Schöpfungen der Kunstrichtungen, die über zehn Jahre lang als entartete Kunst verdammt und verboten waren, wurden zu frischem Leben in der Öffentlichkeit erweckt. Darüber hinaus wollte Neues geschaffen werden. Es war kaum ein Jahr nach dem Krieg vergangen, da entstanden in Wien gleichzeitig zwei Gruppierungen von Künstlern. Der Art Club im Künstlerhaus und die Künstlervereinigung in der Sezession. Die einen waren Verfechter der abstrakten Kunst, die anderen Protagonisten und Gründer des Wiener phantastischen Realismus, der zu dieser Zeit seinen Durchbruch erlebte. Konkurrenzverhalten unter beiden Vereinigungen ergab sich zwangsläufig. Nach jahrelangem friedlichem Nebeneinander kam es zum Streit zwischen den Lagern. Eine Trennung wurde unabwendbar. Über allem schwebte wie ein Allvater Albert Paris Gütersloh.
Alfred Schmeller, der Kunsthistoriker, fand für den Artclub ein neues Lokal im Kärntnerdurchgang, den Keller unter der American Bar, die Alfred Loos im Jahre 1908 entworfen hatte. Der Eigentümer dieser Lokalitäten war Max R. Lersch. Aus Billigkeitsgründen wurden die kahlen Wände der Stiege und des Kellergewölbes mit Strohmatten ausgelegt, nach welchen das Lokal seinen Namen „Strohkoffer“ erhielt. Das waren Matten aus zusammengebundenem Stroh, wie man sie zu dieser Zeit auf Baustellen zum Abdecken brauchte. Es gab einige Zugänge zu diesem Keller. Der Haupteingang, von der Straße her gesehen, rechts von der Kärntnerbar gelegen. Durch einen mit Holz getäfelten, schmalen und dunklen Gang wurde der Besucher über eine enge gewundene Holzstiege zum eigentlichen Vereinslokal hinunter geführt. Durch die Loos-Bar selbst konnte man unterirdisch in das Kellerlokal gelangen. An den Toiletten vorbei kam man auf eine Plattform, von wo gerne Tasso, der Schäferhund des Max Lersch, das Treiben beobachtete.

Im Lokal gab es zwei Nischen mit Tischen, gepolsterte Bänke und ein paar Stühle. Mitten im Raum stand ein Bösendorfer-Flügel. Der Keller war ausreichend groß, da er nicht nur die Fläche unter der Loos-Bar, sondern weiter hinaus großteils die des gesamten Hauses darüber einnahm. Tagsüber hatte der Strohkoffer die Aufgabe eines Ausstellungslokals. An den Wänden und an Schnüren von der Decke hängend waren Bilder der jungen, aufstrebenden Künstlerschar zu besichtigen. Die dort ausgestellten Gemälde und Skulpturen waren von nächtlichem Tabakrauch gebeizt. Ein Geruch, der sich in den Strohmatten an den Wänden festsetzte. Die von den abendlichen Besuchern kaum beachteten Exponate repräsentieren heute einen Wert von einigen Millionen Euro.
Die Gastronomie erschöpfte sich in Brötchen und heißen Würstchen mit Senf. Erhitzt wurden diese in der unterirdischen Küche, die ursprünglich für das darüber liegende Lokal erdacht war. Deshalb gab es einen Speisenaufzug nach oben. Der dritte Zugang führte eben durch diesen Küchenraum in den Nachbarkeller, der wiederum in einem anderen Wohnhaus seinen Ausgang zur Seilergasse hatte. Das war ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg, da wurden aus Gründen des Luftschutzes zwischen benachbarten Kellern Durchgänge gebrochen. Diese geheime, durch eine Stahltüre gesicherte Öffnung, spielt später einmal eine wichtige Rolle. Tagsüber wurde der Strohkoffer für Ausstellungen der Bilder und Skulpturen junger Künstler benützt. Nahtlos, etwa ab achtzehn Uhr, wandelte er sich zu einem vergnüglichen, öffentlich zugänglichen Vereinslokal.
In diese Zeit des Aufbruchs platzte ich Youngster in die fröhlich-animierte Gesellschaft von Studenten und Professoren der Kunstakademien. Zugegeben, die bildende Kunst war mir ursprünglich egal. Aber an Musik gab es im Keller Wunderbares zu erleben. Zwanglos ergaben sich hinreißende Jamsessions mit Friedrich Gulda, Hans Kann, Uzzi Förster, Joe Zawinul und zahlreichen anderen Musikern. Unvergesslich bleiben Gulda und Zawinul vierhändig improvisierend! Auf mitunter freundschaftlicher Basis verkehrte ich dort nahezu täglich mit manch nachmaliger Berühmtheit. Da waren, um nur diejenigen zu nennen, mit denen ich näheren Kontakt hatte: Alfred Schmeller, Kurt Moldowan, Friedensreich Hundertwasser, Helmuth Leherb, Rudolf Hausner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, der ewig Pfeife rauchende Heinz Leinfellner mit Schülern, Helmut „Quasi“ Qualtinger, Kurt „Sowerl“ Sowinetz, die damals frisch zur Schönheitskönigin gekürte Erni Mangold und nicht zuletzt dem anfangs vollkommen dunkelhaarigen Wolfgang Hutter. Und einige andere, später in Vergessenheit geratene Künstler. Manchmal konnte man den alten Ferdinand Kitt zu einem Plausch treffen und Stammgast war der ewig alkoholisierte Schriftsteller L. E. Pötzelberger, liebevoll betreut von seiner Frau Peggy. Sie war angehalten, ihm täglich morgens ein Glas voll Rum zum Bett bringen, das er regelmäßig vor dem Aufstehen trank. Kurt Kobalek, der Arbeiterdichter und Besitzer einer Kohlenhandlung, der lange mit Qualtinger zusammenarbeitete und ihm Texte lieferte.
Nicht zu vergessen die Schauspielerriege um Johanna „Hannerl“ Matz und ihrem späteren Ehemann Karl Hackenberg, sowie der liebenswerte Regisseur Erich Neuberg, der sich spektakulär das Leben nahm. Man sagte, er hätte sich auf der Bühne des Theaters in der Josefstadt erhängt. Unter den berühmten Besuchern dieses Kultlokals war einmal der „dritte Mann“ Orson Welles, der sich im Suff wegen seines ungebührlichen Verhaltens von einem Gast eine Ohrfeige einhandelte, wie man mir erzählte. Es würde leichter fallen nur diejenigen aufzuzählen, die den Strohkoffer selten oder gar nicht frequentierten. Das sind die Glücklichen, die keine Beeinträchtigung ihrer Leberfunktionen zu befürchten hatten. Denn zur Freude des Lokalbesitzers Max „Mackie“ Lersch, floss reichlich Alkohol durch die Kehlen der arrivierten und potenziellen Berühmtheiten. Meist aus „Dopplern“ eingeschenkt, wie man die Flaschen mit einem Füllvolumen von zwei Litern nannte, servierte Kurt Baumgartl den Besuchern grünen Veltliner. Flaschenbier wurde ebenfalls gerne genommen. Es waren seine Gäste, denn er hatte sie fest im Griff, stundete oft mittellosen Künstlern die Bezahlung, in verschiedenen Fällen vergaß er später die Schuld einzufordern. Kurt war ein menschliches Faktotum, gezeichnet von einer violetten Hautverfärbung, welche die gesamte rechte Gesichtshälfte überzog. Was aber seiner stillen Autorität keinen Abbruch tat.
Apropos Alkohol, irgendeinmal fuhr ich Freund H. C. Artmann nach Hause, der sturzbetrunken hinten auf der Ladefläche des Kombis die Fahrt verschlief. Aufgrund irgendwelcher Umstände trafen wir uns nach diesem nächtlichen Transport nie mehr wieder. Ich habe lange Zeit das von ihm im Auto vergessene Buch „The Dean Of Scotland“ wie einen Schatz zum Andenken behalten und gehütet. Etwa sieben Jahre nach Kriegsende gab es bei den Künstlern kleine Unsicherheiten über die endgültige weltanschauliche Linie, in die sie ihre Bemühungen richten wollten. Ob sie sich mehr dem französischen Existenzialismus nach Jean-Paul Sartre näher verbunden fühlten, oder sich eher Eigenem, Wienerischem widmen sollten. Auf Grund einer Einladung war einmal Jean Cocteou, ein Vertreter des Existenzialismus, Gast im Strohkoffer. Diese Periode der Unsicherheit drückte sich selbst in der unterschiedlichen Kleidung aus. Manche der jungen Protagonisten trugen beständig Sakko und Krawatte, andere waren schon recht legèr in ihrem Outfit. Alle hatten aber eines gemeinsam, den trendigen, der britischen Armee entlehnten Dufflecoat in Kamelhaarfarbe. Ein unpraktisches Kleidungsstück. Die zwei aufgesetzten Taschen waren geräumig, aber unverschlossen, dadurch gingen deren Inhalte leicht verloren. Und durch den Spalt vorne, den ausschließlich drei Knebelverschlüssen offenhielten, zog es empfindlich kalt unter den Mantel.

Unter den Stammbesuchern des Strohkoffers hatte sich ein toller Zusammenhalt gebildet, der mich einmal vor einer unausweichlich scheinenden Tracht Prügel bewahrte. Der Journalist und Schriftsteller Helmuth B. und ich gingen eines Abends auf der Kärntnerstraße in Richtung Kärntnerdurchgang, da pöbelten uns von der anderen Straßenseite ein paar aus Niederösterreich stammende Burschen an. Zu zweit uns stark fühlend, blieben wir diesen Buben keine Antwort schuldig. Doch dann überquerten sie die Straße und Helmuth B. war von mir unbemerkt verschwunden. Sicher hat er sich in die nahe gelegene Adebar geflüchtet. Ich stand jetzt einer gehörigen Übermacht allein gegenüber. Vermutlich hat ein Passant meine missliche Situation erkannt, und die Nachricht davon in die „Unterwelt“ getragen. Auf einmal quoll, einer Eruption gleich, aus dem Strohkoffer eine geschlossene Meute von etwa einem Dutzend Künstlern unterschiedlicher Strömungen. Die Gruppe lief auf uns zu und rettete mich durch ihr massives Erscheinen zumindest vor einem gebrochenen Nasenbein.
Dann gab es in Wien die Unterwelt, die sich mit Stoß spielen und anderen verbotenen Tätigkeit ihr täglich Brot verdienten. Die war es, welche Mackie Lersch und seine Lokale beschützte. Dafür bekamen diese Herren im dunklen Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte in der Loos-Bar Kognak oder Whisky kostenlos, kamen aber nie zu den Verrückten in den Strohkoffer hinunter. In der eleganten Bar waren die Könige der „Galerie“, wie sie ihren Berufsstand selbst nannten, der G’schwinde, der Toch Heinzi, der Krisch Gustl und andere öfters präsent. Mackie Lersch hatte nicht ausschließlich Freude mit diesen Bekannten. Einige Male musste er sich gegen körperliche Angriffe wehren, wenn einer der Herren mehr Alkohol zu sich genommen hatte, als es seinem seelischen Gleichgewicht guttat. Obwohl Max keineswegs eine Boxerstatur besaß, obsiegte er bei solchen Auseinandersetzungen doch regelmäßig. Das trug ihm Respekt und Achtung ein.
Doch es gab daneben Außenseiter, die nicht zur Galerie der Gentlemen gehörten. Die waren aber eher in den Außenbezirken zu Hause. Einmal war nach einer Kontroverse mit so einem, für Max Lersch wochenlanger Aufenthalt im Spital angesagt. Das kam so. Wir zwei waren spät morgens im Goesser-Keller, um die Nacht mit einer Gulaschsuppe und Bier abzurunden. Dabei löste ein aggressiver Nachtschwärmer eine Tragödie aus. Im gegenseitigen Vertrauen beließ Krisch Gustl, er war anderweitig in wichtigen Geschäften unterwegs, seine attraktive Freundin für eine Weile in der Obhut von Mackie Lersch. Zu dritt saßen wir an einem Tisch, zwischen unseren Beinen lag friedlich der Schäferhund Tasso. Da näherte sich uns ein verwahrlost wirkender Mann kleinerer Statur. Dieser aufdringliche Mensch unmissverständliche bemüht, dabei unsere Anwesenheit missachtend, das Mädchen abzuschleppen. Solch frechen Einbruch in sein Revier konnte sich der Herr der Kärntnerbar nicht bieten lassen, außerdem war er für den Schutz der jungen Dame verantwortlich. Barsch versuchte er den ungebetenen Gast zu verscheuchen. Ein Wort gab das andere, die Aufforderung nach draußen zu kommen, schlug der siegesgewohnte Mackie nicht aus.
Ich verblieb mit Vierbeiner und Mädchen im Keller. Doch ein ungutes Gefühl drängte mich, ihm die Stufen hinauf hinterherzugehen. Tasso folgte mir, freudig mit dem Schwanz wedelnd, zum Hintereingang des Goesserkeller. Ich kam genau rechtzeitig oben an, denn da war Max inmitten der äußeren Kärntner Straße, dort wo tagsüber die Straßenbahn fährt, und wurde von drei Männern attackiert. Mein tief nach vorne gebeugter Freund vermochte sich der Übermacht nicht zu erwehren. Der schmächtigste von ihnen schlug mit der Faust auf seinen Rücken ein, bis ich sah, dass der ein Messer mit langer Klinge in der Hand hielt! Ohne zu überlegen, rannte ich los, leicht behindert durch den verspielt hüpfenden Hund. In vollem Tempo kam ich näher gerannt, da ließ der kleine Mann von seinem Opfer ab, duckte sich, und zielte mit der Waffe auf mich. Ich wäre ihm direkt in das Messer gelaufen, abbremsen war nicht mehr möglich, so sprang ich hoch in die Luft, um dem Vortrieb eine andere Richtung zu geben. Dieser Sprung nach Martial Arts rettete mich vor einem Stich in den Bauch. Aber wahrscheinlich ebenso Mackies Leben, denn die Burschen rannten davon und verschwanden in die Bösendorfer Straße.
Tasso stürzte sich schwanzwedelnd auf Max, um ihn zu begrüßen und um in ihm einen zwar Blut überströmten, aber freundlichen Spielgefährten zu finden. Mackie vorsichtig stützend führte ich ihn zurück vor den Hintereingang des „Goesser“. Dort gab es ebenerdig zusätzlich einen kleinen Ausschank für die Laufkundschaft. Die beschützte junge Frau war ebenfalls schon heraufgekommen und brachte einen Stuhl mit auf die Straße. Da saß nun Max heftig blutend vor dem Lokal und wünschte sich einen Kognak. Während das Mädchen Rettung und Polizei verständigte, bestellte ich bei der Bedienung hinter der Schank ein Glas Brandy. Mackie trank es in einem Zug aus und verlangte nach einem Zweiten. Der tiefe Schnitt, der von der Stirne, am Auge vorbei bis zur Wange reichte, blutete unaufhörlich, wodurch sich das geleerte Schnapsglas wieder mit Menschenblut füllte. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, mit welcher Miene der Mann hinter dem Tresen das mit Mackies Blut gefüllte Glas zum Nachgießen entgegennahm.
Rettung und Polizei kamen fast gleichzeitig. Zwei Polizisten liefen sofort in die Richtung, die ich ihnen angab. Mackie wurde verbunden umgehend ins allgemeine Krankenhaus im alten Haus in der Spitalgasse gebracht. Die Stiche im Rücken waren so tief, dass für ihn Lebensgefahr bestand. Es folgten Operationen, die über einige Stunden dauerten. Ein längerer Aufenthalt im Spital war unvermeidlich und der verspielte Wachhund Tasso blieb zur Pflege bei mir. Am nächsten Tag dokumentierte sich der ungeschriebene Ehrenkodex der „Galerie“. Zwei der Messerstecher konnten in derselben Nacht verhaftet und auf das Polizeikommissariat am Deutschmeisterplatz gebracht werden. Ich hatte meine Identität der Polizei bekannt gegeben, und wurde zur Zeugenaussage einbestellt. Dort angekommen, war Krisch Gustl schon da. Offenbar hatte ihm seine ebenso hierher vorgeladene Freundin, die etwas verspätet eintraf, den Termin im Kommissariat verraten. Wir saßen in einem Vorraum, durch den Beamte die zwei Delinquenten hintereinander an uns vorbei in den Verhandlungsraum führten. Gustl, groß gewachsen und von kräftiger Statur, sprang unerwartet behände auf und streckte den ersten Kerl mit einem Fausthieb nieder. Totalschaden. Ich wollte nicht hintanstehen und desgleichen mit dem zweiten Kleineren, dem Messerstecher, anstellen. Doch bevor es dazu kam, war schon ein Polizist dazwischen gesprungen. Gustl wurde auf der Stelle verhaftet, aber nach einigen Stunden wieder frei gelassen.
Vierzehn Tage lag Mackie im Spital. Dann kam er zurück ins Leben, besser gesagt, ins Nachtleben. Die Narbe des langen Cuts, den Max sich bei diesem Gefecht neben dem linken Auge eingehandelt hatte, war gerötet und hob sich deutlich von der sie umschließenden Haut ab. Obwohl die Entzündung mit der Zeit zurückging, blieb die Narbe bis zu seinem Lebensende sichtbar. Er trug sie mit Stolz wie ein Student, der bei einer Mensur einen Schmiss davongetragen hat. Max war zehn Jahre älter, und ich mindestens so stolz ihn zum Freund zu haben, wie er auf seinen neu erworbenen „Cut“.
Ja, es war eine Freundschaft unter Männern, bedingungslos und verlässlich. Beide waren wir nie ernsthaft erwachsen geworden, daraus ergab sich eine gewisse Seelenverwandtschaft. Darüber hinaus war er erfahrener, stärker, draufgängerischer, hatte ungleich größeren Erfolg bei den Damen, trank mehr und würfelte besser. Aus diesen Qualitäten lernte ich und genoss den Vorzug, falls einmal ein Mädchen überzählig war, davon zu partizipieren. Nie hob er den Altersunterschied zwischen uns hervor und behandelte mich stets gleichberechtigt. Wenn das nicht genügend Gründe sind, uns Freunde zu nennen?
Seine verstorbenen Eltern waren Betreiber der Loos-Bar und von zwei anderen Lokale. Den Erzählungen Mackies zufolge fuhren sie lange nach Einführung des Automobils traditionell vierspännig vor. Er hatte von seiner Mutter die American Bar und die ein paar Stockwerke darüber liegende elterliche Wohnung geerbt. Aber leider hat er das ökonomische Geschick der Eltern nicht mitbekommen. Sagen wir, wie es war, er versoff die täglichen Einnahmen und spendete davon großzügig netten Damen Drinks in anderen Bars und Nachtclubs. Zum großen Missvergnügen von Maria, einer gescheiten und im Nachtleben bewanderten Frau, die er mit dem Lokal von seiner Mutter übernommen hatte, und welche die Loos-Bar weiterhin verantwortungsvoll führte.

M. R. Lersch in jungen Jahren. Die Dame links ist wohl seine Mutter.