Obwohl es nicht spät ist, bricht die Dunkelheit schnell herein. Die außerordentliche Hitze dieses Tages bleibt verebbend eine Zeit lang spürbar. Angenehm ist die Nähe der Touaregfamilie, sie wirkt beschützend und entspannend. Niemals vorher hatte ich das Gefühl, den Schutz einer Gruppe Touareg zu benötigen. Das fördert die Lust am Reflektieren, und ich überlege mir den Schluss des ersten Buches und die Schilderung der folgenden Jahre meiner Tätigkeiten in Afrika, Europa, Peru und wieder zurück nach Europa. Jeweils die primären Eindrücke prägen sich am stärksten ein. Glasklar liegen die ersten Forschungsreisen in Afrika und die dabei gewonnenen Erfahrungen aus den Jahren 1954 bis – 63 vor mir. Wobei die Grenzen zwischen der zweiten und dritten Expedition schon recht unscharf geworden sind. Faszinierend finde ich die großen Unterschiede in den Kulten Afrikas, die zu entdecken waren und teilweise von uns dokumentiert werden konnten. Doch die rasante politische Entwicklung seit 1960, das Jahr, in dem die Kolonialmächte sich offiziell aus Afrika zurückzuziehen begannen, hatten sie marginalisiert. Vor allem die jeweiligen religiösen Traditionen wurden entweder kommerzialisiert, wie Voodoo, oder zogen sich in schwer erreichbare Gegenden zurück. Woran zu gutem Teil der radikale Islamismus mit seinen salafistischen Idealen Schuld trägt. Durch viele Jahrzehnte eroberte friedlicher Islam große Gebiete Afrikas. Er lebte gleichberechtigt neben uralten afrikanischen Kulten, sowie importierten oder autochthonen Religionen.
Es wird kühl, und ich ziehe mich in meinen wärmenden Schlafsack zurück. Die politischen Einflussnahmen, vornehmlich durch streng islamische Länder, vermindern das Gefühl relativer Sicherheit in den Jahren meiner ersten Expeditionen. Das Vorgehen Chinas zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen lässt Vergleiche mit den kolonialistischen Bestrebungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ohne weiteres zu. Mit dem Unterschied, dass Investitionen, vor allem in die Infrastruktur der Länder, ausschließlich populistischen Zwecken dienen. Ich darf mich glücklich schätzen, meinen Aufenthalt in einem durch seine Abgelegenheit sicherem Gebiet gewählt zu haben. Obwohl es ohne Zweifel anderswo in Afrika ebenso geschützte Möglichkeiten gibt, die Qualität der Sahara ist kaum zu ersetzen. Erschöpft von den heutigen Erlebnissen werden die Gedanken langsamer und undeutlicher, bis mich erholsamer Schlaf überfällt. Im Abtauchen nehme ich den Mond wahr, der sich, für diese Gegend ein ungewöhnlicher Anblick, einen großen Hof zugelegt hat.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, wirkt wie ein Weckruf. In respektvoller Entfernung stehend, sehen mich Dayak Aïscha und seine Tochter an. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob sie miteinander verwandt sind, aber es wäre so passend. Wie sie bemerken, dass ich die Augen öffne, kommen beide näher. Sie fragt mich, wie es mir geht und ob etwas benötigt würde. Ich schlüpfe aus dem Schlafsack, begrüße die Besucher und verneine die Frage. Wir wechseln einige belanglose Worte über den seltsamen Mond heute Nacht. Die Familie wird jetzt weiterreisen, sie könnten aber zwei Männer zurücklassen, um mir behilflich zu sein. Ein Angebot, das ich dankend ablehne. Im Hintergrund bewegen sich Menschen und Tiere, die Zelte sind längst abgebaut, mit den Holzstangen auf die Kamele geladen. Was haben sie mit den Wüstenschiffen angestellt, womit man die beim Beladen dazu bringt, nicht gurgelnd zu brüllen. Diese Geräusche hätten mich unweigerlich geweckt. Meine Verlegenheit ist groß, weil ich habe nichts bei mir, was ein würdiges Abschiedsgeschenk für die Lebensretter wäre. Schnell räume ich die Lebensmittel aus der Aluminiumkiste in den Rover und stelle diese mit der Bemerkung vor ihre Füße, dass dies ein Andenken sei. Vermutlich habe ich damit ins Schwarze getroffen, denn nach einigen Abschiedsfloskeln eilten sie in ihren wallenden Gewändern mit der Kiste zur Karawane zurück. Ich nehme an, sie werden darin den für sie wichtigen Kamelmist transportieren.
Die letzten Nachzügler verschwinden hinter dem Horizont, die absolute Stille der Sahara lässt alle Aufregung vergessen. Wegen einer juckenden Stelle an der Stirne betrachte ich mich im Rückspiegel des Landrover. Ein Greis schaut mir aus dem Glas entgegen. Haar und Bart wirken auf der von der Sonne hoch geröteten Haut schneeweiß, die Falten darin haben sich in der Nacht vertieft und zerklüften scharfkantig mein Gesicht. Es gleicht dem eines lebenslang von Witterungen gegerbten, weit über hundert Jahre alt gewordenen Targi. Verstärkt wird der Eindruck biblischen Alters durch den darauf klebenden Wüstensand. Ich begehe ein Sakrileg, indem ich mir mit kaltem Wasser aus der Gerba den Sand von der verbrannten Haut wasche. Ein neuerlicher Blick in den Spiegel zeigt eine leichte Verjüngung des Aussehens. Trotzdem beschließe ich, den heutigen Tag in aller Ruhe anzugehen. Das Feldbett ist recht gut zum Sitzen geeignet, das nütze ich jetzt aus und nehme dort das Frühstück zu mir. Etwas Wind kommt in kleinen Böen auf. Sie sind kurz und weich, aber in deutlichem Gegensatz zur Stille der Umgebung an den Ohren richtig laut. Die Bemerkung des zukünftigen Amenokal, dem gewählten Oberhaupt aller Touareg, den merkwürdigen Mond betreffend, beschäftigt mich. Es gibt eine Weissagung, dass wenn so etwas geschieht, dann sind sich die Mächtigen der Welt uneins und kämpfen gegeneinander. Ähnliches habe ich früher im Sudan über das Erscheinen eines Hofes um den Mond gehört.
Trotz leichten Unwohlseins beschließe ich, doch bis zum „Grand Erg“ zu fahren. Nach ein paar Kilometern schneller Fahrt steigt Unlust in mir hoch, außerdem erfasst mich ein Gefühl der Schwäche. In einem großen Bogen drehe ich in der scheinbar endlosen Weite der Hamada den Kühler des Rover auf Süd-Ost. Der Motor brummt brav und gleichmäßig. Da es keine Vorratskiste mehr gibt, haben sich ein paar Konservendosen auf der Ladefläche selbständig gemacht. Ihr geräuschvolles Hin- und herrollen nervt ordentlich, doch deshalb stehen bleiben kommt nicht infrage. Ich will nach Hause in die Auberge. In nicht zu weiter Entfernung taucht eine Gruppe Gazellen auf. Das könnte ein nettes Mitbringsel für Michelle und François ergeben. Leider äsen sie aber rechts von meiner Fahrtrichtung in der Sonne, sodass ich nicht in ihre Nähe gelange. Sie flüchten weit außerhalb einer sicheren Schussentfernung. Es gibt morgen früh in der Dämmerung noch eine Chance. So schlage ich in einem mit wenigen Büschen bewachsenen Gebiet das Nachtlager auf. Ich bestreiche ein inzwischen beinhart gewordenes Stück Baguette mit dem Inhalt einer der herumrollenden Dosen Paté. Damit das Essen besser rutscht, trinke ich dazu eine halbe Flasche extrem erwärmten Rotwein. Der Schlafsack lockt. Neben dem effizienten Schutz vor nächtlicher Kälte vermittelt er dem Schlafenden trügerische Sicherheit kindlichen Geborgenseins.
Der Gedanke, mit einer frisch erlegten Gazelle meinen Wirtsleuten Freude bereiten zu können, hat voll Besitz von mir ergriffen. Die erste Dämmerung lässt mich hochfahren und hellwach packe ich schnell zusammen. Leider erweist sich die Gegend, in der ich die Nacht verbrachte, zum Jagen absolut unergiebig. Ungeordnet werfe ich die Schlafsachen ins Auto und fahre sofort los. Da meine Rückreiseroute anders liegt, als die der Anreise, wende ich den Rover direkt nach Osten. Das funktioniert problemlos, denn in der flachen Hamada benötigt man zu dieser Jahreszeit keine vorgezeichneten Pisten. Solch bedenkenloses Herumkurven in unendlicher Einsamkeit lässt lang vermisstes Gefühl von Freiheit hochkommen. Ich erinnere mich an die frühere Durchquerung einer leichten, zart begrünten Senke, in der ich eine Anzahl Gazellen nebst Antilopen gesehen hatte. Dorthin will ich. Nach kurzer, schneller Fahrt liegt diese paradiesische Tiefebene vor mir. Die Sonne steigt über den Horizont. Aber leider komme ich von der falschen Seite, denn bei Jagden hat mich die Erfahrung gelehrt, man soll das Tagesgestirn möglichst hinter sich haben. In respektvoller Entfernung von den scheuen Tieren umrunde ich diese. Nur einige von ihnen äugen ohne Reaktionen zu mir herüber. Solange ich fahre, besteht aus ihrer Sicht keine Gefahr für sie. Die Fenster des Fahrzeugs sind alle geöffnet, kühler Luftzug lässt Kopfhaar und Hemd flattern. Der Drilling liegt, provisorisch vor einem Sturz gesichert, griffbereit am Beifahrersitz. Endlich habe ich die Sonne exakt im Rücken und das Anpirschen im Auto kann beginnen. Spätestens jetzt stellen sich ehrlichen Jägern, die europäischen Jagdgesetzen und deren Ethik unterworfen sind, die Haare zu Berge. Doch in Afrika herrschen andere Gesetze. Hier geht es nicht um Trophäen, sondern um Nahrungsbeschaffung. Außerdem würde es Tage brauchen, um sich dem Wild zu Fuß auf erfolgversprechende Schussentfernung anzunähern.
Es folgt Routine. Äußerst vorsichtig an die Gruppe Gazellen heranfahren, das Auto in Schussposition stellen, derweilen sich trotz weit überhöhter Pulsfrequenz nur in Zeitlupe bewegen. Dabei wird einem nicht bewusst, dass man zu atmen aufgehört hat. Das Zielfernrohr hat den ausgewählten Bock längst erfasst, der Finger liegt am Druckpunkt des Abzugs ……, das langsam dahinrollende Fahrzeug ruckelt zweimal und bewegt sich nicht mehr. Der Benzintank ist leer. Verwundert, aber keineswegs alarmiert spannen ein paar Prachtexemplare mit aufgestellten Lauschern zu mir herüber, um dann gemütlich weiter zu äsen. Die Benzinkanister zu erreichen, bleibt nur übrig auszusteigen. Gerade einmal die Wagentür geöffnet, flüchtet die Herde. Wie zum Hohn bleiben die Tiere nach wenigen Metern erwartungsvoll stehen und beäugen mich voll Interesse. Kaum setze ich einen Fuß auf den Wüstenboden, jagen sie mit gewaltigen Sprüngen in die Weite der Sahara. Über diese verpasste Gelegenheit bin ich schwer verärgert und enttäuscht. Nach dem Tanken und mehreren Startversuchen geht es wieder Richtung Süden. Ich schiebe die Schuld an meinem Versagen dem durch die Sonne verursachten körperlichen Zustand, der Firma Landrover – weil sie keine größeren Tanks in ihre Autos einbauen – dem minderwertigen Benzin, den Schutzengeln und der Erziehung durch meine Eltern bis hin zu den Lehrern der Volksschulzeit zu.
Etwas Trauer umfängt mich, ich möchte noch einmal in die Schönheit der Wüste eintauchen. Ich hole mir eine Kleinigkeit zu essen, die halb geleerte Flasche Rotwein und nehme damit, die Beine baumeln lassend, auf der Ladefläche des Autos Platz. Ohne Mühe wandeln sich Ärger und Trübsal in Glücksgefühle. Ich lasse die absolute Stille und unendliche Weite auf meine Seele wirken. Die Ewigkeit dürfte jetzt beginnen, und ich wäre damit zufrieden. In dieser gehobenen Stimmung setze ich die Reise fort. Spuren anderer Fahrzeuge kreuzen meinen Weg oder laufen parallel dazu. Die schmale Piste wird durch unregelmäßig gesetzte, sie begrenzende Steinhäufchen erkennbar. Bis zum Abend wird die Strecke zur Auberge geschafft sein. Ich bin kürzer als geplant unterwegs, irgendein unbestimmtes Gefühl drängt mich zu vorzeitiger Rückkehr.
Offensichtlich habe ich zu lange beglückt in die Wüste gestarrt, denn ohne Überleitung bricht die Dunkelheit herein. Die Häufchen aus Steinen, welche Menschen vorsorglich am Rande der Piste aufgebaut haben, zeigen den Verlauf der Strecke an. Im Licht der Scheinwerfer erreiche ich endlich das breite Band der Wellblechpiste, die nahe an der Auberge vorbeiführt. Der leistungsstarke Motor des Landrover lässt ein zügiges Tempo zu. Bald sehe ich am Horizont Lichtschein. Der kann nur von der Beleuchtung des Hauses der Mouloudjis sein. Kurz vor der Abzweigung in den Weg zum Ziel queren drei Gazellen gemütlich die Straße. Ich fühle mich verhöhnt. Hier, in dieser Gegend, dürften gar keine sein. Man hat im Haus mein Kommen schon längst gehört und gesehen. Wie von Geisterhand öffnet sich das Tor der Einfahrt, François winkt freundlich, was mir ein Gefühl des Geborgenseins in einer Familie gibt. Im weiträumigen Hof parkt ein grau lackierter Toyota, ein Auto der algerischen Polizei. Die Anwesenheit solcher Beamten, weit entfernt jeder Zivilisation, löst stets Unbehagen aus. Ich stelle den Motor ab, lösche das Licht und steige aus. François schließt das Tor und kommt schnellen Schrittes herbei. Nach der herzlichen Begrüßung sagt er mir mit einer Wendung seines Kopfes Richtung Toyota, die wären meinetwegen hier. Sie sind schon gestern frühmorgens aufgetaucht und wollten unbedingt auf mich warten. Damit erklärt sich ebenfalls der nicht gewöhnliche Aufwand an Licht im und um das Haus. Merde, denke ich, was haben die vor, weil sie sogar Tage von ihrer Zeit opfern?
Obwohl keiner Schuld bewusst, betrete ich mit mulmigem Gefühl die Gaststube. Da sitzen, Kaffeetassen vor sich, alte Bekannte. Es sind drei der Polizisten, die vor einigen Wochen hier waren. Sie sind diesmal erstaunlich freundlich, der Anführer steht auf und reicht mir die Hand. Der Offizier trägt eine adrette Uniform, ein Überbleibsel aus der französischen Zeit Algeriens. Es gab Überfälle in seinem Distrikt, meint er, weshalb er mit mir reden muss. Michelle umarmt mich kurz, aber demonstrativ. Angewandter Mutterinstinkt: „Tue ihm nichts, sonst bekommst du es mit mir zu tun“. Der Polizeioffizier und ich setzen uns an einen Tisch. Er bekommt eine Tasse Kaffee hingestellt, die Wirtin bringt mir augenzwinkernd einen Whisky mit Eis. Wo ich die letzten Tage gewesen sei und ob meine Waffe noch da wäre, fragt der Polizist. Ich bitte Françoise, das Gewehr aus dem Landrover zu holen. Während dem erzähle ich dem Algerier, etwas ausgeschmückt, das Abenteuer der vergangenen Tage. Wichtigtuerisch betrachtet er die Waffe, vergewissert sich, indem er sie aufklappt, dass sie ungeladen ist. Zufrieden mit den Ergebnissen seiner Inspektion gibt er sie mir wieder zurück. Ich danke meinem Schutzengel für das Pech bei der Gazellenjagd. Wäre ich mit Beute heimgekommen, hätte das peinlich werden können. Algerien hat verschiedene Gebiete zu Reservaten erklärt, bei denen man nicht so genau erkennt, wo deren Grenzen sind. Der deutlich edel bemessene Whisky wirkt, die Augen brennen vor Müdigkeit. Beruhigt über den Ausgang des Gesprächs verabschiede ich mich allgemein und strebe meinem Turmgemach entgegen. Oben angekommen versperre ich vorsorglich die Türe, stelle das Gewehr in die Ecke. Angezogen aufs Bett fallen und daraufhin sofort einschlafen ist eins.
Durch arabische Laute, die vom unteren Stockwerk herauf klingen, werde ich geweckt. Geräuschvoll fährt das Polizeiauto ab. Jetzt duschen und frühstücken. Das Wasser ist so kalt von der Nacht, dass ich beschließe, mich nur notdürftig zu waschen. Mit frischer Kleidung am provisorisch gewaschenen Körper steige ich in die Gaststube hinunter. Der Frühstücksplatz ist wie gewohnt hergerichtet. Ich rücke hörbar den Stuhl zurecht. Aus der Küche klingen klappernde Geräusche sowie Michelle, die fragend meinen Namen ruft. Dank ihrer arabischen Abstammung, kann sie den Anfangsbuchstaben „H“, von Herbert aussprechen, was bei François, dem gebürtigen Franzosen, stets wie „ärbär“ klingt. Ich antworte mit einem gerufenen oui und Guten Morgen. Sie erscheint mit einem voll beladenen Tablett. Obwohl ich kein großer Frühstücker bin, freue ich mich diesmal darauf. Das scheint die Gute erraten zu haben, denn es ist üppig, was sie mir da auf den Tisch stellt. Sie schenkt den Tee in die Tasse und meint dabei: ils font la guerre en Europe. Ja, sie sagt es tatsächlich so: Sie machen Krieg in Europa! Da diese Idee derart absurd ist, denke ich kurz an einen Scherz, oder will sie mir damit andeuten, dass ich doch lieber hier in der Wüste bleiben soll? Sie bestätigt es aber nochmals und erzählt mir Details. Jetzt erklärt sich der unvorhergesehene Besuch der Polizei. Die angeblichen Überfälle waren nur ein Vorwand. Ich kann und mag es nicht glauben, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert zivilisierte Menschen gibt, die einen dritten Weltkrieg herauf beschwören. Dessen ungeachtet steht mein Entschluss fest, mich nach dem opulenten Frühstück konzentriert dem Schreiben zu widmen„.
An diesem Abend frage ich um die Erlaubnis, mit fernsehen zu dürfen. Ich betrete den Raum, in dem sich das Fernsehgerät befindet. Da stehen zwei Sessel, fast unverrückbar schwer aus massivem Holz gefertigt. Man findet diese gleich aussehenden, mit weichen Polstern ausgelegten Möbelstücke überall in Afrika. Die breiten Armlehnen wären ideal zum Abstellen von Gläsern geeignet, wenn sie nicht schräg nach hinten zur Lehne steil abfielen. Die Szene ist gespenstisch. Ich sitze, bequem angelehnt, in der Hand ein Glas mit Pastis, worin die frischen Eiswürfel knackend in Stücke springen. Ein Ambiente des Wohlfühlens, während Fernsehbilder das Furchtbare zeigen, in Europa herrscht Krieg. Kaum mehr als siebenhundert Kilometer von Wien entfernt, das ist in etwa die Fahrtstrecke nach Berlin, bringen Menschen auf Geheiß von Politikern Menschen zu Tausenden um. Jeden Abend treffen wir uns zu den Nachrichten. Täglich zeigen die Bilder brutale Zerstörungen, Leid und Gewalt. Stunden- und tagelang in moderigen Kellern ausharren, am näherkommenden Geräusch der explodierenden Bomben die Entfernung abschätzen. Ich habe es selbst erlebt. Es war qualvoll, bei Treffern in der Nachbarschaft im flackernden Licht der nackten Glühbirne den durch die undichten Türen eindringenden Staub einzuatmen. Das alles ist in Europa wieder eingekehrt. Von den Leuten einer Generation verursacht, die das Glück hatten, in eine siebenundsiebzig Jahre dauernde Zeit des Wohlstands durch prosperierende Wirtschaft geboren worden zu sein. Sie lebten in dem Luxus, den ihre Eltern oder Großeltern aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geschaffen haben. Ähnlich wie die Covid-Pandemie erschüttert dieser Krieg alle Länder dieser Erde und wir sehen voraussichtlich großen globalen Veränderungen entgegen.
Diese Gedanken beschäftigen mich so ausschließlich, dass ein konzentriertes Weiterschreiben nicht mehr möglich scheint. Binnen Stunden fällt mein Entschluss, hier abzubrechen und nach Hause zu fahren. Der fehlende Schluss des ersten Teiles der Zeitgeister kann daheim geschrieben werden. Ich setze ihn umgehend in die Tat um. Der Abschied von Michelle und François gestaltet sich etwas sentimental, doch der Hinweis auf die Länge der zurückzulegenden Strecke, lässt weitere Peinlichkeiten nicht aufkommen. Die Fahrt wird zehn Tage dauern und ich verspreche, mich sofort nach meiner Ankunft in Wien zu melden.

König Aho, Herrscher über das Volk der Fon in Dahomey, blickte nach den gesanglichen Darbietungen eines Teiles seines Harems, stolz in die Runde. Wir kannten uns nicht so recht aus, ob Applaus angebracht wäre. Doch Mackie rettete die Situation, indem er sich mit höflichen Worten bedankte. Es war erstaunlich, dass Aho, dieser weitgereiste Mann, der alles über Europa und die Welt wusste, der die etwas veralteten Zeitungen las, sobald sie hier in Abomey eintrafen, dass er inbrünstig an Geister glaubte. Knapp vor Mitternacht erhob sich Aho abrupt. Er werde jetzt zu seinem Bruder, dem berühmtesten Fetischpriester des Landes fahren. Der würde in ein paar Stunden DAN, die große Regenbogenschlange befragen, wann sie zu essen gedenkt, somit Opfer annimmt. Ob wir mitkommen wollen? Spontan stimmten wir zu. Ich hatte Sorgen, denn der Akkumulator war durch die vergangenen Aufnahmen fast leer geworden. Standesgemäß besaß der König einen blitzsauberen Peugeot 403. Er wartete, bis wir unser Gefährt beladen und bestiegen hatten. Aho fuhr nicht selbst, aber ließ seinen Fahrer forsches Tempo halten. Damit wir den Vordermann nicht verloren, forderte ich den IFA bis zum Letzten. Mehrmals musste der König warten, bis wir ihn einholten. Irgendwann einmal waren seine Hecklichter nicht mehr zu sehen. Im Lichte der völlig verstellten Scheinwerfer tastete ich mich weiter, bis wir das Staatsgefährt wieder sahen. Oft stellten sich uns nachtaktive Tiere in den Weg, die zu umfahren mir knapp gelang. Bei einer Abzweigung hatte er gewartet, fuhr aber sofort los, als unsere Lichter für ihn zu sehen waren. Glücklicherweise fanden wir in der Dunkelheit die richtige Weggabelung.
Auf einer Lichtung vor uns brannten die Feuer eines kleinen Dorfes. Dort stand der Wagen des Königs. Er war umgeben von einer großen Menschenmenge, die sich bei unserem Näherkommen teilte. Aho hatte im Auto auf uns gewartet. Sein Sinn für dramatische Effekte war recht ausgeprägt, denn er wollte uns das Schauspiel seines Aussteigens bieten. Der Wagenschlag öffnete sich und wir hörten ein gewaltiges Rauschen. Es waren die Boubous der Umstehenden. Wie von einem Orkan hingestreckt, fielen hunderte Menschen im Umkreis in sich zusammen. Das ergab eine gespenstische Szene. Der Herrscher stand aufrecht inmitten dieser sich auf dem Boden windenden Masse. Niemand erhob sich. Ein Mann, geschätzte vierzig Jahre alt, kroch durch die Liegenden auf den König zu. Er erweckte einen muskulösen und gedrungenen Eindruck. Es war der Bruder Ahos, der große Medizinmann. Kniend küsste er dem Herrscher die Hand. Es schien aber Unstimmigkeiten zu geben. Es gab Rede und Widerrede, bis Aho’s Stimme lauter wurde. Seine Worte klangen wie ein Befehl. Er wandte sich uns zu und berichtete kurz, dass wir jetzt die Erlaubnis hätten, am Fest teilzunehmen. Hier war er König. Der große allmächtige Herrscher, dessen Wille für alle Gesetz war. Unvorstellbar, dass er in Abomey in seinen Palast Hof hielt, aber jeder französische Beamte durfte ihm diktieren, was erlaubt sei. Seit Jahrzehnten bemühte sich die Kolonialmacht Frankreich vergeblich, Maßnahmen und Neuerungen durchzudrücken. Vor allem im Gesundheitssystem und agrarpolitisch. Überall stießen sie auf unüberwindliche Schwierigkeiten, die dann letztendlich dazu führten, dass man laufen ließ, wie es eben läuft. Ein einziger Wink mit dem kleinen Finger von diesem König, und der Dschungel lag ihm zu Füssen. Die Franzosen nahmen an, dem Monarchen alle Machtbefugnisse genommen zu haben. Hier sahen wir das Volk vor ihrem wirklichen Herrscher liegen, obwohl ihr Reich seit einem Jahrhundert nicht mehr bestand. Wir schrieben es seiner politischen Umsicht und internationalen Erfahrung zu, dass es in diesem Land nicht zu blutigen Aufständen gegen die Kolonialmacht gekommen war.
Wir hatten uns mit Aho auf dem Dorfplatz niedergelassen. Kopezky fotografierte und ich schleppte meine etwa sechzig Kilo an Geräten herbei. In einer Ecke des Platzes stand etwas erhöht der Fetisch. Diese Figur war wie der Klosterfetisch von getrocknetem Blut überkrustet, ihre Form aber weniger zu erkennen. Immer mehr Menschen kamen aus dem Busch. Die vom aufgewirbelten Staub gesättigte Luft durchströmte der nur Afrikanern eigene Geruch nach Schweiß. Ich habe diesen ausschließlich in Afrika bemerkt. Ein Phänomen, das durch die spezifische Ernährung der Schwarzen zu entstehen schien. Er wirkte keineswegs unangenehm, sondern gehörte zum Ambiente. Nach kurzer Wartezeit erschien der Fetischeur. Ohne uns nur eines Blickes zu würdigen, setzte er sich vor den Fetisch. Sofort verstummte in der versammelten Menge jedes Gespräch, gespannte Ruhe kehrte ein. Beschwörungsformeln murmelnd stellte er ein Holztablett vor sich auf den Boden. Er griff in die Tasche seines Gewandes und holte drei Kolanüsse heraus. Unter weiteren Beschwörungen brach er die Nüsse an deren Nähten auseinander, hielt sie einen Augenblick über seinen Kopf und ließ sie dann zusammen auf das Brett fallen. Tief beugte er sich darüber, murmelnd betrachtete er das Tablett, um gleich bedächtig aufzustehen. Er übergoss den Fetisch aus einer Kalebasse mit Palmöl, wendete sich ab und schritt wieder an uns vorbei. Dann sprach er zu der atemlos lauschenden Menge. Es waren nur einige Worte. Das Publikum brach in Freudengeheul aus und gebärdete sich wie glückliche Kinder.
Diese Orakelzeremonie, die wir Europäer ausnahmsweise beobachten durften, diente dazu, die Wudu nicht zu erzürnen. Das ist das Wort für Geister. Kam uns bekannt vor. Das klang doch so ähnlich wie Voodoo? Ja, diese zwei Kulte sind miteinander verwandt. Die Sklaven, die von Westafrika nach Südamerika gebracht wurden, haben die Rituale mitgenommen und dort wieder aufleben lassen. Ebenso stammen die grundlegenden Rhythmen der afrobrasilianischen Musik von hier. Der Priester kam zurück, hinter ihm drei weitere Männer in gleichen Gewändern, die Unterpriester. Sie waren beauftragt, die Gebete zu unterstützen, welche eine Gruppe Frauen singen musste. Normal sind es elf Strophen, doch das Orakel hat diesmal einundvierzig verlangt. Nur äußerst selten werden alle gesungen, ein ausgesprochener Glücksfall für uns. In dem Wissen, eine fast leer gefahrene Batterie zu haben, fuhr ich den Umformer hoch und schaltete das Tonbandgerät ein. Es gelang mir, schnell das Mikrofon an einem geeigneten Platz aufzustellen, da erklang schon der erste Gesang. Der Frequenzmesser zeigte stabil 50 Hertz, das Instrument zur Aussteuerung der Tonaufnahme, ein magisches Auge, zuckte grün, das Band drehte sich, und wider Erwarten konnte ich, zumindest den Beginn dieser einmaligen Aufführung, aufnehmen. Eingekrampft und in Schweiß gebadet starrte ich ausschließlich auf die Messinstrumente, um bei einem etwaigen Abfall der Spannung gleich zu reagieren. Ich verwendete zwar Kopfhörer, war aber so auf die Technik konzentriert, dass ich akustisch faktisch nichts wahrnahm. Unvermittelt hielt das Band an, das Leuchten der Anzeige erlosch, der Umformer schwieg …. die Batterie war leer. Mein ohnehin nicht ungeheuer ausgeprägtes Selbstbewusstsein schmolz mit dem Sterben der Autobatterie dahin. Geschockt und wie paralysiert kniete ich vor den, jetzt nutzlosen Geräten. Bis mir Mackie auf die Schulter klopfte und fragte, was ich denn hier weiterhin machen wolle, die Gesänge seien schon lange vorbei. Das war natürlich übertrieben, aber ich hatte alle Strophen auf Band! Und ich dankte den Geistern für die unwirkliche Kapazitätssteigerung der Batterie.
Inzwischen wurden die Feuer neu geschürt. Übermannshohe Flammen schossen empor und beleuchteten die umliegenden Hütten. An einer Feuerstelle versammelten sich die Musiker, die Tamtamiers. Mit größter Begeisterung schlugen sie rhythmisch auf ihre umgekehrten Kalebassen ein. Mit gemischten Gefühlen, weil ungewohnt untätig, hörte ich der Musik zu. Es war ein intensives Erlebnis, da ich mich erstmals voll auf Rhythmus und Klang der einfachen Instrumente konzentrieren durfte, ohne Ablenkung durch die Technik. Auf dem gesamten Platz wurde getanzt, Männer wie Frauen. Wir verbrachten noch eine Zeit lang im Dorf, in der unsere Gläser stets mit Kognak nachgefüllt wurden, sobald sie leer waren. Aber da uns zuschauen alleine nicht genügte, baten wir Aho, nach Hause fahren zu dürfen. Er bot uns sein Geleit an und wir folgten ihm. Vor Tagesanbruch erreichte der kleine Konvoi Abomey. Im Campement schloss ich die Batterie ans Ladegerät an, dann kroch ich, wie die anderen vor mir, in meinen Schlafsack und schlief etliche Stunden.
Am nächsten Tag gab es einen herzlichen Abschied von seiner Majestät König Justin Aho, Chef de Canton von Abomey. Nochmals wiederholte er seine Einladung und wir mussten ihm versprechen, dass wir bei einer neuerlichen Expedition unbedingt auf einen Sprung vorbeikommen werden. Joko erhielt zum Abschied eine Flasche Cognac überreicht, über die er vor Freude außer sich geriet. Wir nahmen sie ihm sofort ab, um sie bis zu seiner Großjährigkeit zu verwalten.
Nur 130 Kilometer trennten uns von den Gestaden des Atlantiks. Nichts hielt uns mehr. Nach zwei Tagen erreichten wir Cotonou. Es war Nacht, als wir das Wasser erblickten. Der Geruch des Meeres, die Sterne, die sich in den dunklen Wellen spiegelten, setzten unaussprechliche Gefühle in jedem von uns frei. Achteinhalb Monate Arbeit und Strapazen haben wir hinter uns gebracht. Wenig bekleidet rannten wir zum Wasser. Es war genauso warm wie die uns umgebende Lufttemperatur. Dessen ungeachtet planschten wir lange darin, wie vergnügte Kinder. Unsere Luftmatratzen lagen eng beieinander, die Regelmäßigkeit der Brandung rauschte uns in glücklichen Schlaf. Am Morgen brachen wir zeitig auf, da sich, zwar in respektvollem Abstand, Neugierige um uns versammelten. Schwere graue Wolken lagen über Meer und Strand. Die große Regenzeit hielt sich eben nicht strikt an den gregorianischen Kalender. Bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit und tropischer Temperatur fuhren wir in das Stadtgebiet. Beim Erreichen des Zentrums klebte die vom Schweiß getränkte Kleidung am Körper. Der französische Automechaniker in Niamey hatte eine Adresse in Cotonou angegeben, wohin er unsere Sachen schicken wollte. Nach einigen Irrfahrten fanden wir die Stelle. Da die Straßen asphaltiert waren, wagten wir es, den IFA zusätzlich damit zu beladen. Er tat zwar wie ein Kamel seinen Unmut darüber kund, indem er in seinen strapazierten Blattfedern ächzte, aber er schluckte brav die hinzugekommene Last.
Mehrfach haben wir an Häusern der Vororte Nischen und kleine Vorbauten mit Figuren darin gesehen. Nicht erlahmender Forschergeist drängte uns, diese zu untersuchen. Was wir fanden, war höchst erstaunlich. Offensichtlich waren es Fruchtbarkeitsfetische. Menschenfiguren stellten den Zeugungsvorgang und die dazugehörenden Präliminarien beachtenswert eindeutig, ideenreich und in vielen möglichen Varianten dar.

Hier genauer nachzufragen wäre sicher unterhaltsam und wichtig gewesen. Doch die Vorfreude auf die Heimfahrt ließ unsere berufliche Neugier auf die nachfolgende, längst geplante Expedition verschieben. So fuhren wir gegen Westen, der Grenze zum englischen Kolonialgebiet Goldküste entgegen. Der Zustand der Straßen war erfreulich und unser Wagen, der nach der Schinderei in Wüste, Busch und Urwald wieder Asphalt unter seinen Sohlen merkte, zeigte sich von seiner bestgelaunten Seite.
Unsere Ernährung während der Strecke von Abomey bis zur Küste bestand ausschließlich aus Fleisch und wenigen Früchten. Letztere hatten wir in den Trockengebieten des Niger und im nördlichen Dahomey merklich vermisst. Hier aber vertilgten wir Kokosnüsse, Ananas und Wassermelonen in solchen Mengen, dass die Eingeborenen bedenklich die Köpfe schüttelten. Über lange Strecken der Fahrt an der Küste entlang herrschte Schweigen im Wagen. Langsam wurden uns die Erlebnisse und das Ausmaß dessen, was wir geleistet haben, bewusst. Fünfzigtausend Meter bespieltes Tonband schleppten wir mit und Tausende Fotos. Ausreichend Material, um das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften, die Universität und das Museum für Völkerkunde über längere Zeit damit zu beschäftigen. Jetzt bereuten wir es, dass niemand daran gedacht hatte, eine Filmkamera mitzunehmen. Die intensiven Vorbereitungen und angefallenen Organisationsarbeiten, sowie der Zeitaufwand zum Beschaffen von Geräten für die Tonaufnahmen, hatten mich voll ausgelastet. Da kam Film überhaupt nicht infrage. Jetzt, am Ende der Expedition, waren wir zwar gescheiter, aber doch zufrieden. Wir waren sehr, sehr müde und ein bisschen stolz auf unser Kollektiv.
Am Meer entlang, auf gepflegtem Asphalt, ging es zügig nach Westen. Durch die ehemals deutsche Kolonie Togo und deren Hauptstadt Lomé zum Übergang in die britisch dominierte Goldküste. An der Grenze, nur wenige Kilometer nach der Stadt, wurden wir äußerst liebenswürdig empfangen. Unser Eintreffen war, wie üblich, telegrafisch angekündigt worden, und der französische Posten verabschiedete uns freundlich. Eingetroffen auf der anderen Seite grinste der schwarze Zöllner so lange, bis er die Gewehre sah. Mit einem Mal wurde er amtlich und nahm eine Haltung ein, die Autorität vermitteln sollte. Zu deren Einfuhr bedürfe es einer Erlaubnis aus Accra, erklärte er. Alle Versuche, ihm klarzumachen, dass wir nur durchfahren wollten und es international üblich wäre, ohne Aufwand die Gewehre in das Carnet einzutragen, prallten an seiner Wichtigkeit ab. Dem gewohnten, eher jovialen Umgang der französischen Kolonialbeamten standen hier angelsächsische Disziplin und Sturheit gegenüber. Nur wenige Meter trennten uns vom blauweißroten Zollhaus. Die Regierung und alle offizielle Macht der Goldküste lagen in den Händen von Schwarzen. So war es ebenfalls mit dem Zoll. Einen derart konsequenten Widerspruch gegen das Verlangen eines Europäers gab es in den von Franzosen verwalteten Gebieten nicht. Wir erwarteten und hofften, dass jede Sekunde der weiße Chef des Postens auftauchen müsse, mit dem man normal und logisch sprechen könne. Einen solchen gab es aber nicht. Die Debatte lief sich heiß. Wir hatten Glück, denn zufällig war ein Beamter der britischen Kolonialbehörden anwesend. Unter der Oberhoheit der Afrikaner führten Engländer die Administration dort weiter, wo sie wegen ihrer Erfahrung in Schlüsselpositionen gebraucht wurden. Wir erklärten ihm die Situation und er sprach mit dem Zöllner. Daraufhin trug dieser die Waffen mit allen Nummern und Merkmalen in das Carnet ein. Das beanspruchte ihn so umfänglich, dass er vergaß, die Visa zu verlangen. Ein wenig Glück gehört zu so einer Expedition dazu, denn wir hatten keine.
Das zügige Tempo auf ungewohnt glattem Asphalt ließ etliche Meilen vor Accra einem Reifen die Luft ausgehen. Nicht lange nach dem Radwechsel, zeigte sich ein weiterer Pneu mit ihm solidarisch und wurde ebenfalls platt. Da aber keine Reserve mehr da war, auf die wir zurückgreifen hätten können, entlud sich die aufkeimende Erbitterung über Mackie. Zu Recht, denn er hatte sich in Abomey geweigert, einen Reservereifen zu kaufen. Max stellte sich an den Urwaldrand und hielt den nächsten Wagen auf, der uns passierte. Es war ein luxuriöser Amerikaner, der ihn bis Accra mitnahm. Voll Neid sahen wir ihm hinterher. Der freundliche Fahrer war der Neffe des Finanzministers der Goldküste, und Mackie begeisterte ihn auf der vierstündigen Fahrt in die Hauptstadt für unsere Arbeit. Das bewirkte, dass dem Forscher üppige afrikanische Gastfreundschaft zuteilwurde. Zwei Tage, in denen er auserlesenen Mahlzeiten und ebensolchem Trinken eifrig zusprach, brauchte Max, bis er mit einem Pneu wieder auftauchte. Wir hatten eben das Essen für den Abend fertig, aber Max lehnte freundlich dankend ab. Wir bissen in die gewohnten Sardinenbrote, die so hart waren, dass wir um unsere Zähne bangten. Selbst Joko küsste Max andauernd und schlief dann Nase an Nase mit ihm ein, sorglich umhüllt von der Whiskyfahne des Expeditionsleiters.
Gegen Mittag fuhren wir in die Hauptstadt ein. Die Wellblechhütten der Slums hinter uns lassend, glaubten wir auf ein Set in Hollywood geraten zu sein. Die Stadt Accra beeindruckte durch ihr getreues Abbild einer typischen Goldgräberstadt, wie aus dem wilden Westen Amerikas. Mit ihren „Saloons“, den Fassaden aus Holzplanken und Balken zum Anbinden von Pferden, erwarteten wir jeden Augenblick, John Wayne mit rauchenden Colts aus den Pendeltüren treten zu sehen. Störend an diesem Idyll war nur die gedrängte Menge von amerikanischen Straßenkreuzern. Im geschundenen IFA-Zweitakter knatterten wir, die Sechs- und Achtzylinder um uns nicht beachtend, durch das Wohnviertel. Zartblaue, nach verbranntem Öl riechende Wölkchen hinterlassend, näherten wir uns dem Zentrum der Stadt. Mackie kannte sich hier aus und lotste uns zu einem Hotel, bei dessen Anblick wir zu träumen meinten. Ein eifriger, in weiße Livree gezwängter Boy eilte herbei und versuchte beflissen den verzogenen Wagenschlag zu öffnen. Verzweifelt zog er an der Schnalle, erst kräftiger Druck von innen brachte den gewünschten Erfolg. Eher unvorteilhaft gekleidet und nach Dschungel riechend entstiegen wir dem Fahrzeug. Für Sekunden wurde abrupt die dezente Unterhaltung der Gäste auf der Terrasse unterbrochen. Herren im Tropensmoking und Damen in tief dekolletierten Kleidern saßen im kühlen Schatten üppiger, gepflegter Urwaldgewächse, starr in ihren Rohrstühlen. Es war ein Auftritt, wie ihn weiland Attila nicht besser hätte haben können. Dessen ungeachtet schob sich unsere Kompanie überzeugend verdreckt an den Erstarrten vorüber ins weiße Gebäude. Die Formalitäten an der Rezeption verschob man auf später. Der Geschäftsführer verschwand flugs durch eine Türe, die Dame hinter dem Tresen reichte uns mit spitzen Fingern die Zimmerschlüssel, und zog sich gleich bis an die Wand zurück. Der Boy draußen stand verzweifelt vor dem Berg an unansehnlichem Gepäck. In unseren Zimmern angekommen, widmeten wir uns sofort intensiver Körperpflege und kleideten uns so sauber wie möglich aus den von Niamey nachgesandten Koffern. Der Besuch beim hauseigenen Hairdresser bescherte uns eine Einheitsfrisur. Wir sahen aus wie Brüder. Mackie, der Expeditionsleiter, hob sich durch seinen knallroten Bart von uns ab. Am Nachmittag verließen wir das Hotel und begaben uns auf einen Anstandsbesuch zum österreichischen Honorarkonsul. Nach reiflicher Überlegung legten wir die kurze Strecke zu Fuß zurück. Mit unserem Auto konnte man nirgends mehr vorfahren. In frisches Gewand gekleidet, rasiert und mit gestylten Haaren, wurde uns wärmstes Willkommen zuteil. Die Einladung zum Dinner schlugen wir nicht aus.

Der Koch des aus Londonderry gebürtigen Konsuls brachte vorzügliche, von uns lange vermisste Speisen auf den Tisch. Mag sein, dass Mackies gepflegter roter Bart ausschlaggebend für dieses Festessen war. Es wurde ein harmonischer Abend, in dessen Verlauf die Sprache auf unsere Weiterfahrt kam. Der Herr Konsul, er war hauptberuflich Geschäftsmann, wusste von einem Frachtschiff, das demnächst mit Waren von ihm nach Hamburg ablegen sollte. Am Morgen des nächsten Tages klärte sein Büro mit dem Kapitän der „Lucy Essberger“ die Überfahrt zu einem vorteilhaften Preis. Wir bezahlten diesen aus der von IFA überwiesenen Kasse. Nach Abzug der Kosten für das Hotel blieben uns vierzig englische Pfund. Das Schiff sollte in zwei Tagen ablegen. Um Hotelkosten zu sparen, schifften wir uns umgehend ein. Es war ein erhebender Augenblick, wie unsere 27 PS afrikanischen Boden verließen. Von kräftigen Gurten getragen und einem Kran gehoben, schwebte der Kombi an Deck des Frachters, wo er fest vertäut wurde. Wir bezogen unsere die für jeweils zwei Personen bestimmten, geräumigen Kajüten. Das Schiff war für die Mitnahme von Passagieren eingerichtet. Die Zivilisation hat uns wieder eingefangen. Die Stille der Nächte in der Wüste, im Busch und im Urwald waren Vergangenheit. In so einem großen Schiff sind immer irgendwelche Motore oder Lüftungen zu hören. Erinnerungen an meine erste Hochseeschifffahrt stiegen hoch.
Kaum an Bord, begann Mackie zu husten und sich zu übergeben. Bei einem schnell arrangierten Arztbesuch in der Stadt stellte sich Gelbsucht heraus. Zusätzlich war bei ihm die Malariaprobe positiv ausgefallen. Ich selbst litt an einer schmerzhaften Stirnhöhlenentzündung. Kopezky hatte ebenfalls Gesundheitsprobleme. Nur Jean-Pierre, von uns Schani genannt, zeigte keinerlei Krankheitssymptome. Mit dem Verlassen des Hafens besserten sich die Symptome der Patienten schlagartig. Die täglichen Mahlzeiten nahmen wir in Gesellschaft des Kapitäns und seiner Offiziere ein und unterhielten sie mit den abenteuerlichsten Erlebnissen der Expedition. Wir taten unser Möglichstes, um die Schiffsvorräte zu reduzieren. Eine akute Zunahme des Gewichtes aller Expeditionsteilnehmer im Verlauf der vierzehntägigen Reise war nicht zu übersehen. Ausgeruht und die Köpfe voll mit Plänen erreichten wir am 8. September 1956 Wien.
Wir lieferten das erarbeitete Material bei den damit zufriedenen wissenschaftlichen Institutionen ab. Umgehend starteten die Vorbereitungen für die nächste Expedition, die uns über eine Zeit von annähernd zwei Jahren durch einen Großteil des afrikanischen Kontinents führen sollte. Doch darüber werde ich in einem zweiten Teil der „Zeitgeister“ berichten.
(Die Musikaufnahmen zu diesem Kapitel sind im Katalog des Phonogrammarchivs der Akademie der Wissenschaften zu finden)