1. Kapitel – Ankunft in der Sahara

Mit etwas mulmigen Gefühlen, doch mit Vorfreude erfüllt, bin ich allein vor sechs Tagen im fast neuen Landrover zur Durchquerung der Sahara über die Tanezrouft-Linie, der Route National Nr. 6 gestartet. Vor etwa sechzig Jahren kannte ich die Strecke „wie meine Hosentasche“. Diese Piste hatte ich fünfmal befahren, sowohl vom Norden nach Süden und umgekehrt. Die Orientierung war damals vermittels von Anhöhen, Sanddünen oder abgestellten „Bidons“ (Benzinfässern) problemlos. Eine genaue Standortbestimmung war ebenso präzise möglich, wie heute mit GPS. Aber Beträchtliches hat sich seit meiner letzten Fahrt durch die Sahara verändert, als es strenge Sicherheitsregeln gab. Niemand verwehrt mir als Einzelperson die Einfahrt, die Piste ist fast durchweg asphaltiert, allerdings ungepflegt und streckenweise von Sand verweht. Genau genommen eine langweilige Fahrt. An vielen Plätzen ist das Vordringen von Zivilisation mit all ihren Vor- und Nachteilen zu bemerken. So paradox es klingt, selbst in der Wüste schreitet die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen voran. Dass es jetzt genügend Plätze zur Wasserentnahme gibt, ist ein Vorteil. Ich bin nicht gezwungen, meinen vorsorglich und aus Erfahrung mitgeführten Vorrat an Trinkwasser anzugreifen. Ohne Schwierigkeiten erreiche ich so die Grenze von Algerien zu Mali.

Erinnerungen werden lebendig. In den frühen sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fuhren die Wagen unserer Expedition in die französische Grenzstation Bordj Perez ein. Die wenigen, dort in der Einsamkeit stationierten Grenzpolizisten empfingen uns überaus freundlich. So war es nicht verwunderlich, dass wir, erschöpft und durstig nach entbehrungsreicher Durchquerung des schwierigsten Teiles der Sahara, mit ihnen gemeinsam ihr Weinkontingent vergnügt bis zum letzten Tropfen leerten. Diese Station war auf einem Hügel am Rande der blühenden Oasenstadt gelegen. Dass sie demnächst diesen Posten an Algerien übergeben werden müssen, war den Franzosen bewusst. Trotzdem, oder eben deshalb war die Stimmunter den Polizisten eher ausgelassen heiter.

Die Algerier haben nach der Übernahme diesen Ort zu Bordj Mokhtar umbenannt. Ich verlasse ihn bei Sonnenaufgang auf der Route National 6 und nehme die Piste, die in Richtung Tamanrasset führt. Nördlich der Straße liegt gleich nach Bordj Mokhtar ein etwa zwei Quadratkilometer großes, eingezäuntes rechteckiges Gebiet, das ehemals ein blühender Gemüsegarten der Region war. Seit Jahren wird er aber nicht mehr bewässert und versandet komplett. Nur die aus dem Sand herausragenden Spitzen der Steine, welche die Beete begrenzten, lassen auf vergangene Fruchtbarkeit schließen.

Gleich nach der Gartenmauer beginnt die schnurgerade Piste in Richtung Osten. Diese dürfte der Hauptroute folgen, auf der Kanga Moussa, der Herrscher Malis im 16. Jahrhundert mit riesigen Karawanen Gold und Handelswaren nach Lybien und Ägypten transportierte. Ich muss dem Landrover ordentlich Gas geben, damit sich der Wagen halbwegs ausgeglichen über die „dol ondulé„, die einem Wellblech ähnlichen regelmäßigen Querrinnen der Sandstraße bewegt. In die endlosen Weiten der „Hamada“, der Steinwüste, eintauchend, verschwindet die Piste flirrend am Horizont in der Unendlichkeit. Die Temperaturanzeige des Landrovers hält schon seit Stunden bei 41° Celsius Außentemperatur. Trotz eines gewissen Glücksgefühls sehne ich mich nach Ruhe und Einsamkeit. Aber noch ist es nicht so weit. Im Wagen selbst herrscht Höllenlärm, durch die Reifen aufgewirbelte Steine schlagen gegen Kotflügel und Spritzwände. Die schier endlose Landschaft wird manchmal von dunklen Erhebungen unterbrochen, dahinter ragen die von der Sonne beleuchteten, scharf abgegrenzten Höhenzüge der Sanddünen auf. Der Himmel ist mit einem leichten Schleier überzogen, der aber die Intensität der Sonnenstrahlen und die Lufttemperatur keineswegs vermindert.

Nach einer mehrere Stunden dauernden Fahrt über eine Autos mordende Wellblechpiste, sehe ich linker Hand ein angerostetes Schild mit nahezu unlesbar gewordenen Aufschriften in französischer und arabischer Sprache. Ich entziffere zwischen Einschusslöchern „Auberge du soleil et genie„, was übersetzt Herberge zur Sonne und Werkstatt bedeutet. Es weist auf ein etwa zwei Kilometer abseits der Hauptstrecke gelegenes, recht umfangreiches Bauwerk hin. Wegen des durch die harten Wellen der Piste bedingten hohen Tempos, bin ich wesentlich zeitiger als angenommen an meinem Ziel angelangt. Bis zum Sonnenuntergang bleiben ein paar Stunden. So beschließe ich, zu einem einige Kilometer weiter östlich gelegenen Aussichtspunkt zu fahren, den mir Einheimische in Bordj Mokhtar empfohlen hatten.

Seit dem frühen Morgen bin ich völlig allein auf der Piste unterwegs, nur ein einsamer Targi mit zwei Kamelen kommt mir jetzt von Osten her entgegen. Um ihm die von mir aufgewirbelte Sandfahne und Steinschlag zu ersparen, fahre ich von der Strecke ab in die flache Wüste, wo ein geringeres Tempo möglich ist. Wieder auf der Piste erreiche ich nach einigen Kilometern den Aussichtspunkt, der aber nichts außerordentlich Sehenswertes hergibt. Lustvoll lenke ich den Landrover in unnötig großer Kurve durch unberührten Sand, bleibende Spuren hinterlassend, zurück auf das Wellblech und fahre gegen Westen, mit dem Ziel Auberge du soleil. Wenige Meter rechts von der Piste erscheint wieder der Kamelreiter, den ich rücksichtsvoll mit dem gleichen Ausweichmanöver in weitem Bogen überhole. Ich winke dem vermummten Targi grüßend aus dem offenen Fenster zu, dem scheint aber diese freundliche Geste nichts zu sagen, im Sattel kerzengerade aufgerichtet setzt er seine Reise fort.

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Bei dem Schild führt eine schmale Zufahrt von der Piste weg zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden. Sie sind von einer Lehmmauer umgeben, die den Platz vor dem größten der Bauwerke von der Wüste trennt. Zwei Palmen und einige dornige Akazienbäume deuten auf das Vorkommen von Wasser. Das Haus ist ebenerdig, hat aber einen breiten quadratischen Turm mit Fenstern und rundherum Zinnen, einer Burg ähnlich. Links und rechts neben dem über drei Stufen zu erreichenden Eingang symmetrisch angeordnet zwei mit Klappjalousien versehene Fensteröffnungen. Am Dach des Turmes sehe ich eine Satellitenschüssel zum TV-Empfang, eine immens lange Antenne für Kurzwelle und einen Wasserbehälter. Einige Meter davon versetzt steht ein weiteres Gebäude mit Sonnenkollektoren auf dem Flachdach. Ein großes Tor, so breit, dass selbst die riesigen Sahara-LKWs einfahren können, führt offensichtlich in eine Garage oder Werkstatt. An der einen Mauer zwei Pumpen, jeweils eine für Benzin und Diesel.

Ich parke den Landrover vor dem Haupteingang und begebe mich in das Innere des Hauses. Nachdem ich mehrmals in die Hände geklatscht habe, erscheint aus der Dunkelheit ein Mann in gesetztem Alter und weiten schwarzen Saharahosen mit weißer Stickerei an den Seiten, Sandalen und einem schon der Wäsche bedürftigen Unterhemd. Oder ist es zwar gewaschen und nur vom lehmhaltigen Wasser gelb gefärbt? Er begrüßt mich in akzentfreiem Französisch und beantwortet meine Frage nach Unterkunft für einige Tage freundlich positiv.

Ich werde in den Gastraum zu einem Platz geführt, der gleich den vier weiteren Tischen und Stühlen im Raum, aus gepresstem Metall gefertigt ist. Möbel, wie man sie in allen ehemals französischen Kolonien in identer Form und Lackierung findet. An den Tischen, sowie an den dazu passenden metallenen Stühlen fehlt stellenweise schon die nicht mehr definierbare Farbe. Drei Ventilatoren mit jeweils vier großen Blättern hängen von der Decke des Raumes, bewegen sich aber nicht. Die Belüftung erfolgt durch sich gegenüber liegende, in über Mannshöhe angebrachten rechteckigen Öffnungen. Zwei im Osten, die anderen im Westen des Gebäudes. Diese nicht verglasten Fensteröffnungen werden mit Jalousien aus Holz verschlossen und von innen verriegelt. Die Tische und Stühle sind wärmer als die nur wenig bewegte Luft, die zart zu einem der Fenster herein und aus dem auf der anderen Seite wieder hinauszieht. Dieser kaum merkliche Luftzug bewirkt das Verdunsten des Köperschweißes auf der Haut des Reisenden und bringt ihm damit angenehme Kühlung und Erholung. Obwohl draußen die pralle Sonne scheint, herrscht im Gastraum grade ausreichend Licht, um das zum Ausfüllen vor mir liegende Anmeldeformular zu entziffern. Ich schreibe mit einem anfänglich streikenden Kugelschreiber meine Personalien in die dafür vorgesehenen Rubriken. Es ist kaum anzunehmen, dass hier, eine motorisierte Tagesreise von jeder Zivilisation entfernt, irgendjemand an diesen Informationen Interesse hat. Nach der langen rumpeligen und lauten Fahrt ist die hier herrschende absolute Stille recht erholsam. Ich spüre binnen Minuten, wie sich ein dicker psychischer Knoten in meiner Brust löst.

Die Frau des Wirtes, bei dem ich den Drink bestellt hatte, bringt mir einen Pernod 45. Mit Eis und Wasser verdünnt hat dieser die schimmernde Farbe und Transparenz von Perlmutt angenommen und duftet herrlich nach Anis und Erinnerungen. Den Pastis „51“, den ich mir eigentlich gewünscht hatte, den gibt es hier nicht. Die eindeutig arabisch stämmige Frau scheint aus dem Norden Algeriens zu stammen, denn ihre Hautfarbe ist hell, wie die eines Europäers. Da sie das Haar unbedeckt trägt, schließe ich daraus, dass sie Christin ist. Ihre Figur ist etwas rundlich, aber nicht so unförmig, wie man sie oft bei südländischen Frauen dieses Alters findet. Ihr schlichtes Kleid könnte ebenso arabisch, wie von Europa beeinflusst sein. Unter den schon leicht hängenden Lidern blitzen klare wissende Augen, die flink mein Äußeres abschätzen. Ihr recht selbstbewusstes Auftreten verrät mir, wer hier im Hause das Sagen hat. Sie mustert mich noch einmal kurz und verschwindet in Richtung des im Dämmerlicht liegenden Vorraums. Ich bleibe mit meinem Glas Pernod allein, zufrieden in die Stille hörend. Es gefällt mir hier.

Kurz darauf kommt der Wirt wieder in den Gastraum und nimmt das ausgefüllte Papier vom Tisch. Seine Frage, ob ich mein Zimmer sehen wolle, erinnert mich daran, den schon warm gewordenen Aperitif auszutrinken. Ich folge ihm durch den dunklen, angenehm kühlen Korridor und über eine aufwärts führende Stiege bis zu einer Türe aus Holz. Tageslicht dringt durch ein paar Ritzen. Gleich beim Eintreten fällt mir die nahezu genaue Ausrichtung des Zimmers mit der fensterlosen Wand nach Süden auf. Das bedeutet wenig direkte Sonneneinstrahlung, somit tagsüber erträgliche Temperaturen. Dieser Raum hat an zwei Seiten jeweils ein Fenster mit eingesetzten Fliegengittern. Unter dem gegen Osten Blickenden rostet still und beharrlich eine nicht funktionierende Klimaanlage vor sich hin. Das in Richtung Westen schauende dritte Fenster ist fest verschlossen. Der Blick hinaus zeigt mir einen Hof bis hin zur Begrenzungsmauer, angrenzend ein Stück Hamadawüste mit einer weit dahinter liegenden durchaus hohen, im Licht der untergehenden Sonne glühenden Sanddüne. Das keineswegs üppige Bett ist sauber mit weißen Laken bezogen. Die gekachelte Dusche in der Ecke zeigt Spuren rostigen Tropfwassers, die sich so eingeätzt haben, dass sie selbst aggressive chemische Bleichmittel nicht mehr entfernen könnten. Etwas rötlicher Wüstensand hat sich um den Ausfluss gesammelt. Saharasand stört mich nicht, denn hygienischer und keimfreier kann nicht einmal ein frisch desinfiziertes Operationsbesteck in einem mitteleuropäischen Krankenhaus sein. Leider ist keiner der von mir so geliebten Deckenventilatoren vorhanden. Neben einer funktionierenden Klimaanlage wäre er nicht angebracht. Mir steht ein Schreibtisch in der richtigen Höhe zur Verfügung, darauf eine gemütliche Stehlampe und zwei Stühle davor. Ich fühle mich äußerst luxuriös bedient und äußere dem Wirt meine Zufriedenheit. Dieser ist deutlich erleichtert darüber, dass ich die defekte Kühlanlage nicht moniert habe, und zieht sich wieder zurück. Beim Hinausgehen murmelt er etwas über die Freude, einen netten Gast beherbergen zu dürfen.

Kaum alleingelassen untersuche ich den aus Blech gefertigten Spind, fabriqué en france, und hinter einer kleinen Türe aus Metall verborgen die Toilette, wenn man diese in den Boden eingelassene Spezialschlüssel so nennen mag. Werden Mann oder Frau älter, steigern sich bei dieser Art WCs die Schwierigkeiten den Stoffwechsel anstandslos und schmerzlos durchzuführen. Ich beschließe diesem Problem später auf den Grund zu gehen, und mich vorerst dem Entladen des Autos und dem Transport des Gepäcks ins Schlafgemach zu widmen. Da es keineswegs geplant war, mein restliches Leben in Afrika und in rauer Wildnis zu verbringen, ist die Zahl der Gepäckstücke relativ gering. Nachdem die meisten Objekte ihren Platz gefunden haben, wird ausgiebig geduscht. Dann begebe ich mich hungrig und durstig in den Gastraum.

Ich strebe den gleichen Tisch an, der mir vorhin zugewiesen wurde und ersuche den Wirt um ein kühles Bier. Doch der hat für mich einen anderen Platz vorbereitet, an dem ich Mahlzeit und Getränk einnehmen soll. Minuten später wird mir der Grund für diese Umstellung klar. In diesen Breitengraden findet der Wechsel vom Tag zur Nacht vergleichsweise abrupt statt. Es wird schnell finster und allein der Tisch, an dem ich nunmehr sitze, wird von einer elektrischen Glühlampe ohne Schirm beleuchtet. Sanft die Luft bewegend beginnen die langsam sich drehenden Deckenventilatoren ihr kühlendes Werk..

Nach dem Abendessen schenke ich mir ein weiteres Glas des ausgezeichneten Rotweins aus algerischen Rieden ein und gedenke diesen anstrengenden Tag genüsslich und reinen Gewissens mit einem duftenden Zigarillo zu beenden. Animiert durch den wohlschmeckenden Rauch drängen sich mir Ideen für die geplante Arbeit, das Aufzeichnen von Erinnerungen aus meinem recht langen Leben auf. Das für die schmerzenden Gelenke und mein inneres Wohlbefinden äußerst zuträgliche trockene und heiße Klima beflügelt die Phantasie. Mitten in das glückliche Schwelgen ertönt aus dem Hof vor dem Fenster das laute unwirsche Gurgeln eines Kamels, das zum Hinlegen gezwungen wird. Durch die halb offene Eingangstüre kann ich hinaussehen. Im trüben Licht der Laterne vor dem Haus gleitet der reisende Targi, den ich auf der Piste überholt hatte, elegant aus dem Sattel. Unser Wirt kommt ihm entgegen und die zwei begrüßen sich wie alte Bekannte. Der Hausherr verharrt eingedenk seiner Körpergröße auf der untersten Stufe der Vortreppe und erreicht damit nur knapp die Augenhöhe des hochgewachsenen Targis. Sie unterhalten sich in Tamaschek, der Sprache der Tuareg. Trotz der böhmischen Anmutung dieser Bezeichnung ist das ein rein autochthones Idiom, das international in den von Tuareg bewohnten Gebieten: Algerien, Mali, Mauretanien, Burkina Faso, im Süden Lybiens und im Niger verbreitet ist. Nach diesem kurzen Gespräch verzieht sich der Targi mit seinen beiden Kamelen in die Dunkelheit des Hofes.

Der Wirt betritt wieder das Haus und fragt mich, ob ich weitere Wünsche habe. Es ist ausreichend Rotwein vorhanden, so bitte ich ihn zu mir an den Tisch und biete ihm davon an. Ein frisches Glas ist schnell geholt und nach der zweiten geleerten Flasche Mascara haben wir Vertrauen zueinander gefasst und uns gegenseitig schon recht gut kennengelernt

Monsieur Mouloudij, so nennt sich der Wirt, hat die dritte Bouteille geöffnet. Bei deren Konsum setzten wir unseren Dialog fort und tauschen einige Lebenserinnerungen aus. Beim ersten Anblick heute taxierte ich François, so sein Vorname, als „petit blanc“ ein, obwohl er seinem Namen nach Algerier sein müsste. Petit blanc bezeichnet man in den frankophonen Gebieten Afrikas den vergammelten Weißen, der sich hier, da in Europa meistens gescheitert, im Outfit und Lebensstil eines heruntergekommenen Afrikaners mit Mechaniker- oder Hilfsdiensten sein Auskommen schafft. Anfänglich versicherte er mir, dass er eben ein hellhäutiger Algerier sei und aus Oran stamme. Moslem ist er sicher nicht und sein Alter ist schwer zu schätzen, da sein Gesicht durch Sonne und Tabakgenuss gegerbt ist und viele Falten aufweist. Bei dem Gespräch stellt sich heraus, er ist ein „pied noir“, ein in Afrika geborener Franzose. Er war Soldat der französischen Armee und diente während des Algerienkrieges in einer motorisierten Kompanie. In der Wirrnis des Rückzugs der Franzosen desertierte er, denn er wollte seine Heimat nicht verlassen. Einige Zeit lebte er im Untergrund. Nachdem etwas Ruhe im Land eingekehrt war, zog er zu seiner algerischen Frau Fatima auf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb im Departement Oran. Es gab einen Chansonnier namens Mouloudij, dessen Vater Berber und die Mutter Französin waren. Er wurde 1962 mit dem Lied „Le Deserteur“ berühmt und von Frankreich deshalb verfolgt. Nach diesem Sänger nahm er den Namen Mouloudij an.

Bald wurde ihm aber der Boden im Norden zu heiß. Man hatte ihm hinterbracht, dass er als ehemaliger französischere Soldat an die neuen algerischen Machthaber verraten worden sei, so dass er und Fatima bei Nacht und Nebel flüchteten. Sie durchquerten auf abenteuerlichen Wegen die Sahara und landeten unerkannt in Bordj Mokhtar, viele Kilometer entfernt von politischer Willkür und Rachegelüsten. Hier erfuhren die beiden, dass diese Station der SATT (Société Africaine des Transport Tropicaux), in der wir uns eben befinden, verwaist war und jemand gesucht wurde, der sie übernehmen und weiterführen könne. Sie ergriffen diese Chance und leben hier nunmehr seit Jahrzehnten und wurden zu angesehenen Einwohnern dieser Region. Bei einem Zeitvergleich stellt sich heraus, dass wir gleich alt sind, was dazu führt, dass wir uns von der Stunde an duzen. Es wäre möglich, dass wir uns schon früher einmal getroffen haben, und zwar im Norden Algeriens während des Aufstandes der FLN gegen Frankreich, der Nationalen Befreiungsfront. So erzähle ich ihm ein bisschen aus meinem Leben und dass ich hier sei, um in Ruhe an einem Buch zu arbeiten. Mag sein, dass er jetzt annimmt, einen zweiten Hemingway oder einen Schriftsteller gleichen Kalibers in seinem Haus zu haben. Ach was, soll so sein, er kann meine Ergüsse ohnehin nicht lesen. Die Anstrengungen der Reise und der Wein haben mich ermüdet. So klettere ich über die Stiegen hinauf in die Dachstube.

8 thoughts on “1. Kapitel – Ankunft in der Sahara

  1. Bin schon sehr gespannt auf die Fortsetzung der Reise durch die Sahara und bewundere den Autor ob seiner Geschichtskenntnisse und der Sicherheit in der fremdsprachlichen Kommunikation.
    Sehr interessant zu lesen und in detailreich beschreibenden Bildern die Landschaft, die Örtlichkeiten imaginieren zu können. Ein wirklich spannend geschriebener Reiseerlebnisbericht.

  2. tja, jetzt finde ich endlich zeit und bin schon vom ersten kapitel sehr beeindruckt ! dunschreibst so plastisch, dass ich alles bildlich vor mir sehe …… nebstbei habe ich mich in jungen jahren in einen “ pied noir “ verliebt ?

  3. Kommt noch etwas?

    So! Alle (bisherigen?) zwanzig Kapitel gelesen. Interessant, lehrreich und durchwegs sehr unterhaltsam! Die vermutlich überwiegend authentischen Erlebnisse werden in einem angenehm flüssigen Erzählstil geschildert, welcher einen – besonders durch die gelegentlich eingestreuten Fotos aus dieser Zeit Mitte der 1950er-Jahre – als Leser nahezu mitleben lässt. Das Verweben der Schilderungen aus der Vergangenheit mit der Neuzeit, in der der Autor versucht, seine Erinnerungen neu aufleben zu lassen und aufzuzeichnen, machen diese noch ausdrucksvoller. Denn die abenteuerliche Durchquerung der Sahara mit aus der Not geborenen, nicht sehr tauglichen Mitteln fand in einer Zeit statt, in der es in Nordafrika noch weitgehend friedlich zuging. Niemand ahnte damals, dass die sich langsam formierende „Front de Liberation National“ bald Algerien in einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg stürzen würde, dessen Auswirkungen sich für das Land über die nächsten zwei Jahrzehnte erstrecken würden. In Wien geboren und aufgewachsen, sind mir viele der in den anfänglichen Kapiteln erwähnten Personen und Lokale zumindest namentlich bekannt. Das erweckt beim Lesen irgendwie ein Heimatgefühl. Hoffentlich gibt es bald noch weitere Kapitel!

    1. Natürlich kommt noch etwas, d.h. ist schon auf dem Weg. Es ist eine späte Antwort, ich möchte mich trotzdem noch für Ihre Worte bedanken. Ihr Kommentar hat wesentlich dazu beigetragen, das dieses Kapitel jetzt online und das nächste bereits im Werden ist. An Stoff gibt es keinen Mangel, der Blog behandelt 1956, wir befinden uns im Jahr 2020!

  4. Thank you. That gives me the courage to keep writing. So I will start again. It will be interesting, keep reading ;-).

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